Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
wenn, dann musst du ihn loslassen, damit er dich nicht mitreißt.«
Ragnhilds Worte erschütterten Ava zutiefst. Sie musste sich eingestehen, dass sie mit etwas anderem gerechnet hatte, als mit dem Hinweis, Ehler ziehen zu lassen.
Ragnhild war feinfühlig genug um das zu spüren. »Ein Tag wird dem Nächsten folgen, meine Liebe, und irgendwann wird der Schmerz erträglicher. Wenn Ehler eine ebenso schwarze Seele innewohnt, wie Johannes, dann musst du deine Hoffnung begraben.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann, Ragnhild. Er ist doch immer noch mein Kind.«
»Ja, das ist das Schicksal vieler Mütter. Sie gebären unter Schmerzen, sie ziehen ihre Kinder auf, sie schenken Liebe, sie opfern sich, ihre Schönheit und ihre Geduld, und dann müssen sie alle ihre Kinder dennoch eines Tages gehen lassen – sei es bei der Hochzeit oder unter anderen Umständen. Und trotzdem bereuen wir Mütter nichts. Wir alle teilen mehr oder weniger das gleiche Glück und die gleichen Leiden.«
Ava wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Bis jetzt hatte sie sich zusammenreißen können. Aber Ragnhilds Worte sprachen ihr so sehr aus der Seele, als wären sie die eigenen. Endlich hatte sie das Gefühl, dass jemand sie verstand.
Leise wurde die Tür geöffnet. »Oh, verzeih, ich dachte du bist allein, Mutter«, ertönte es hinter den beiden Frauen.
»Runa, Liebling! Du kommst mich einfach so besuchen?«, fragte Ragnhild erfreut.
Die Tochter trat ein. »Nicht einfach nur so, wenn ich ehrlich bin. Ich wollte mit dir sprechen, aber ich möchte dich und Ava nicht stören …«
»Aber nein, du störst doch nicht …«, sagte Ava bestimmt. »Komm setz dich zu uns.«
Erst jetzt bemerkte Runa, dass Avas Augen feucht glänzten. »Meine Liebe, was ist passiert?«, fragte sie erschrocken und strich ihr über den Rücken.
»Ach, Runa. Es ist wegen Ehler … Ich habe mir gerade Trost geholt. Von Mutter zu Mutter, die beide ein Kind verloren haben, ohne dass es starb.« Die Worte waren schon gesagt, da erkannte Ava mit Schrecken, wie ungeschickt sie gewählt waren. Sofort verschloss sie sich den Mund mit der Hand und murmelte: »Es tut mir leid …!«
Zu spät. Runa begann augenblicklich zu weinen.
Jetzt war es Ava, die Runa über den Rücken strich.
Ragnhild versuchte, ihre Tochter mit sanften Worten zu beruhigen. »Weine ruhig, mein Kind. Wir sind ja unter uns. Ist es das, was du mit mir besprechen wolltest? Freyja? Willst du uns nicht sagen, was dein Herz so bekümmert?«
Runa bekam eine ganze Weile keinen Ton heraus. Sie schluchzte hemmungslos und ließ sich jetzt von Ava umarmen. Irgendwann aber stieß sie hervor: »Ach, Mutter! Wenn es doch nur so einfach wäre. Ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.«
»Das Gleiche hat Ava eben auch gesagt. Sprich nur! Was ist es, das dich so quält?«
Runa versuchte, sich zusammenzureißen und wischte sich die Tränen fort. Sie blickte die Frauen nicht an, während sie redete, aus Angst, gleich wieder loszuweinen. »Der Grund meines Kummers ist seit jeher der gleiche. So viele Jahre schon.« Ihre Schultern bebten erneut, wieder verlor sie jede Beherrschung. »Freyja«, weinte Runa jetzt ungehalten. »Alle um mich herum scheinen ihr Verschwinden mit den Jahren akzeptiert zu haben, doch mich zerreißt es Tag für Tag, Stunde um Stunde.«
»Ich verstehe dich«, sagte Ragnhild, so liebevoll sie konnte.
»Unzählige Male schon habe ich mir vorgeworfen, dass ich stehengeblieben und ohnmächtig geworden bin, dass ich Freyja nicht irgendwo versteckt oder dass ich sie überhaupt mit in die Stadt genommen habe. Ich bin nicht mehr richtig fröhlich gewesen – seit acht Jahren.«
»Gott hat keine größere Liebe geschaffen, als die zwischen Mutter und Kind. Vielleicht wirst du niemals darüber hinwegkommen. Doch du solltest es versuchen, um deiner selbst willen.«
»Aber es ist nicht allein meine Trauer, die mich belastet. Es ist … es …« Runa stockte. Wie sollte sie bloß aussprechen, was sie insgeheim fühlte? »Da ist noch etwas.«
»Was?«, fragte Ava.
»Ich habe noch nie darüber gesprochen.«
»Dann ist es jetzt vielleicht an der Zeit«, bemerkte Ragnhild.
»Ich … ich kann nicht glauben, dass sie wirklich tot ist.«
Diese Beichte kam unerwartet. Ein paar Atemzüge lang schien jede zu überlegen, was am besten darauf zu erwidern war.
Schließlich fragte Ava: »Wie meinst du das?«
Runa schaffte es endlich, ihre Stimme zu kontrollieren. »Ich meine, tief in mir … müsste eine
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