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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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nicht wünschte, da Bücher kostbar waren und Blätter schmutzig, konnte Thymmo es einfach nicht lassen. Zu schön war das gepresste Laub, wenn man sich nur lange genug geduldete. Zudem war Johann Schinkel niemals wirklich böse auf ihn, und sein Tadel fiel meistens recht lau aus.
    Mehrere laute, klappende Flügelschläge ließen den Siebenjährigen von seinem Laubhaufen aufschauen. Zwei Tauben waren von irgendetwas aufgeschreckt worden und erhoben sich nun mit diesem eigentümlichen Geräusch, welches nur diese Vögel beim Aufflattern erzeugten, von ihrem Platz auf dem Ast der Linde. Als sie nach oben stiegen, rieselte ein wunderschöner Regen aus runden, gelben Blättern hinab. Thymmo lief unter die Linde und versuchte, die Blätter in der Luft zu fangen. Er merkte nicht, dass er heimlich dabei beobachtet wurde.
    »Nun sieh dir das an, Werner. Der Junge ist schon wieder im Garten und sammelt Blätter. Ich ahne, dass ich diese wieder zwischen den Seiten meiner Bücher finden werde.« Die Worte des Domherrn klangen nicht erbost, vielmehr hatten sie etwas Liebevolles. Johann Schinkel lächelte, als er durch die geöffnete Luke nach unten zu Thymmo schaute.
    »Vielleicht solltet Ihr … etwas strenger in der Erziehung des Jungen sein, Herr.« Der Diener schaute mit fragendem Blick zu Johann Schinkel hinüber. Die Männer kannten einander schon viele Jahre, und Werner wusste, was er wagen durfte. Ebenso wusste er, dass seine Worte wohl abermals im Nichts verhallen würden. Wenn es um den Jungen ging, der seit vier Monaten bei ihnen in der Domkurie wohnte, war es um den gestandenen Ratsnotar und Domherrn schlicht geschehen. Zwar wusste Werner nicht, woher der Junge kam oder warum er hier war, doch eines war offensichtlich: Johann Schinkel liebte dieses Kind!
    »Ja, ja, du hast recht, Werner«, versicherte Johann mit einem breiten Lächeln. »Glaube mir, ich versuche es jeden Tag, aber es will mir einfach nicht gelingen.«
    »Na, das ist mir noch gar nicht aufgefallen«, spottete der Diener ebenfalls lächelnd, während er die unzähligen Bücher und Papiere auf dem Schreibpult seines Herrn zu ordnen versuchte. Als er das Registrum civitatis zur Hand nahm, um es vom Pult in ein Regal zu stellen, fielen zig bunte Blätter zwischen den Seiten heraus.
    Beide Männer schauten wortlos auf das Häufchen Laub, das sich vor Werners Füßen gebildet hatte.
    Johann wusste, dass er in diesem Moment keinen klar ersichtlichen Grund mehr hatte, den Jungen weiterhin in Schutz zu nehmen, darum löste er geschwind seinen Blick von der Unordnung und rauschte schulterzuckend und grinsend an Werner vorbei. Dabei sagte er noch: »Herrje, es wird Zeit für Thymmo, in die Domschule zu gehen. Ich werde ihn hinbringen.«
    Johann verließ seine Schreibstube mit dem Wissen, dass Werner gerade verständnislos den Kopf schüttelte. Es war ihm gleich. Er lief die Stiegen hinunter und trat nach draußen in den Garten seiner Domkurie, wo er, wie erwartet, Thymmo fand. Er sah, wie der Junge dabei war, seine Beine unter einem beachtlichen Haufen Blätter zu begraben. Augenblicklich wurde Johann warm ums Herz. Wie sehr hatte sein Leben sich doch verändert, seit dieses Kind bei ihm wohnte! Zwar waren die Umstände, die dazu geführt hatten, wahrlich unglücklich gewesen, doch das versuchte Johann stets zu verdrängen – was ihm nicht immer gelang.
    Ohne Vorwarnung waren Runa und Walther von Sandstedt nach der letzten St.-Veitsmarkts-Versammlung im vergangenen Juni mit Thymmo in seiner Domkurie erschienen. Zu diesem Zeitpunkt hatte Johann den Jungen erst ein paar wenige Male gesehen. Dennoch hatte er keinen Wimpernschlag lang gezögert, als die Eltern ihn fragten, ob er das Kind bei sich aufnehmen und es erziehen würde. Es war klar gewesen, dass diese Veränderung im Leben des Ratsnotars viele Fragen aufwerfen würde, doch Johann hatte sich entschlossen, sie einfach zu ignorieren.
    Auch wenn er weder Thymmo noch sonst jemandem jemals würde sagen können, dass der Junge in Wahrheit sein Sohn war, sollte es ihm dennoch an nichts fehlen. Seit diesem Tag überschüttete er das Kind mit all seiner Liebe – der Liebe, die eigentlich Runa, der Mutter des Kindes, gebührte, gepaart mit der Liebe, die er neu in sich entdeckt hatte, seit er den Jungen kannte.
    »Thymmo«, rief Johann, während er auf ihn zuging.
    Der Junge schaute auf, und als er sah, wer ihn gerufen hatte, sprang er hoch und lief auf Johann zu.
    Dieser streckte wie von selbst die Arme aus und

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