Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
in die Seitenschiffe geführt hatten, standen heute hohe, schlanke Säulen. Bald schon würde die Sicht auf die neuen, großzügigen Fenster frei sein und das einheitliche Dach fertiggestellt. Dann würde nichts den Blick der Gläubigen mehr stören, und jeder Gedanke an die vielen dazu nötig gewesenen Münzen verblassen. Zahlreiche Ablässe waren erteilt worden, um den Mariendom in jenen Zustand zu bringen, und weitere würden nötig sein, um die Hallenkirche zu beenden, die sich jetzt schon erahnen ließ.
Für den Dom war der Brand zunächst ein Fluch gewesen – hatte dieses Ereignis doch jede Bautätigkeit gestoppt. Heute aber, dachte Johann und war sich gleichzeitig der Ungehörigkeit dieses Gedankens bewusst, schien genau jener Brand ein Segen für das Gotteshaus gewesen zu sein, denn nur dadurch war es zu dieser atemberaubenden Veränderung gekommen. Trotz der vielen Gerüste, die noch immer das Innere des Doms verschandelten, wirkte der Mariendom schon jetzt fast doppelt so groß und doppelt so hoch wie zuvor.
Johann verlangsamte seinen Schritt, denn er spürte, dass Thymmo sich umschauen wollte. Es war wahrlich nicht das erste Mal, dass er seinen Sohn in den Dom führte, und dennoch schien der Kirchenbau den Jungen jedes Mal aufs Neue zu verzaubern. Johann freute sich, denn sein Plan ging auf. Immer dann, wenn er merkte, dass Thymmo mit sich und seinen Lateinfähigkeiten haderte, versuchte er ihm aufzuzeigen, was stetiges Lernen erbringen konnte: einen Platz unter den Geistlichen der Stadt, die hier ihren Lebensmittelpunkt hatten!
Thymmo riss sich von Johanns Hand los und lief auf den Stephanus-Altar zu. Vorbei an den Säulen, die die Enden des Kreuzgewölbes des Mittelschiffs trugen und direkt zum Eingang der Krypta, deren Gewölbe gleichzeitig der Boden des erhöhten Chors darstellte. Der Altar des Heiligen war heute ganz besonders prachtvoll geschmückt und weckte deshalb Thymmos Interesse. Doch auch die anderen Altäre waren reich verziert, und so lief der Junge von einem zum anderen und bestaunte die teuren Gaben.
»Vater Johann, warum stehen hier so viele Sachen? Wer hat sie dort hingestellt und warum?«
Obwohl Johann ahnte, dass Thymmo vielleicht bloß Zeit schinden wollte, um ja nicht zum Unterricht zu müssen, beantwortete er seine Fragen. »Nun«, begann Johann geduldig und fuhr mit den Fingern über eines der liturgischen Gewänder, die auf einem Altar neben ihm lagen. »Dies hier sind Kaseln . Sie werden von Priestern zum Gottesdienst getragen. Diese Weiße hier ist zum Beispiel für eine Totenmesse. Für jeden Anlass gibt es eine bestimmte Farbe, die es dann zu tragen gilt.«
»Und was ist das hier für ein Tuch?«
»Dies ist eine Palle , die den Altartisch bedecken soll. Siehst du, wie schön sie verziert ist? Mit Rosen und dem Wappen der Familie des Stifters. Auch hier, auf dem Kelch, siehst du das Wappen der Stifter?«
»Ja. Und was ist das?«
»Das ist eine Messkanne für Wasser und Wein. Und dies hier neben dem goldenen Leuchter …«, sprach Johann weiter, während er zum Altar des Apostels Thomas ging, »… ist ein Reliquienbehälter, in dem etwas Heiliges aufbewahrt wird.«
»Was denn?«, fragte Thymmo neugierig.
»Das kann alles sein. Ein Knochen oder ein Stück Leinen. Du kannst es nicht sehen, weil der Behälter fest verschlossen ist. Nur der Vikar, der für diesen Altar zuständig ist, hat einen Schlüssel.«
Auf diese Worte hin fingen Thymmos Augen an zu leuchten. Es war sehr deutlich, dass der Junge nur zu gerne in den Reliquienbehälter hineingeschaut hätte.
»Ich verrate dir ein Geheimnis«, sagte Johann verschwörerisch. »Dort drüben, im Marienschrein auf dem Hauptaltar, dort sind die Gebeine von König Sigismund drinnen.«
»Wirklich?«
»Ja. Du kannst mir glauben.«
Der Junge war sichtlich beeindruckt. »Ich möchte auch ein Vikar sein und einen Schlüssel für einen Reliquienbehälter haben.«
Johann lachte auf. »Wenn das so ist, mein Junge, dann wirst du erst recht fleißig Latein lernen müssen.«
Sofort ließ Thymmo den Kopf wieder hängen. Das Letzte, was er gewollt hatte, war, den Geistlichen wieder daran zu erinnern.
»Und nun komm, ab mit dir in die Schule.«
Gemeinsam durchquerten sie das Mittelschiff des Doms bis zur Höhe des Querhauses. Dann gingen sie in das nördliche Seitenschiff und dort durch eine Tür. Von hier aus gelangten sie in eines der kürzlich fertiggestellten Klausurgebäude, durch das sie zu den Wohnungen der Chorschüler
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