Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
schloss das Kind darin ein. In einem Anflug von Freude über diesen Liebesbeweis wirbelte er den Siebenjährigen übermütig herum, bis dieser jauchzte.
Thymmos helles Kinderlachen war für Johann wie das lieblichste Lautenspiel und der Gesang der Amseln zugleich. Nichts vernahm er lieber und nichts vermisste er mehr, wenn es nicht erklang. Nachdem er ihn wieder abgesetzt hatte, sagte er mit erhobenem Zeigefinger: »Du weißt, warum ich zu dir komme, nicht wahr?«
Das Kind nickte und presste die Lippen zusammen. »Müssen wir wirklich schon zur Domschule?«, fragte er mit einem gequälten Gesicht.
»Schon? Wir sind bereits spät dran.«
»Wie schade, ich hätte so gerne noch weitergespielt.«
»Das kannst du auch später noch tun. Zuerst wird Latein gelernt. Hast du auch brav lesen geübt, so, wie ich es dir aufgetragen habe?«
»Ja, habe ich. Aber es hat keinen Spaß gemacht. Ich mag nicht lesen«, gestand der Junge allzu ehrlich.
»Das weiß ich, Thymmo, aber du musst dich anstrengen, damit du mir bald eine Hilfe bist und später ein Domherr werden kannst. Du willst mir doch helfen, oder?« Johann wusste, dass Thymmo sich mit Latein schwertat, aber es führte kein Weg daran vorbei, wenn er ein Geistlicher werden sollte.
»Ja, ich möchte Euch schon helfen, aber …«
»Was aber?«
»Sie ärgern mich in der Domschule. Alle Jungen sind besser als ich, und deshalb lachen sie mich aus.«
Johann zerriss es fast das Herz, doch vor dieser einen Sache konnte er seinen Sohn nicht beschützen. Er würde lernen müssen, sich zur Wehr zu setzen. Mit einem ernsten Gesicht ging Johann vor dem Jungen in die Knie. Er fasste ihn an den Schultern und sagte: »Sieh mich an.«
Der Junge gehorchte.
»Noch bist du vielleicht schlecht in Latein, doch es liegt an dir, das zu ändern. Du musst immerzu lernen und darfst niemals aufgeben. Dann wirst du eines Tages der Beste sein und mich und deine Eltern stolz machen, hast du das verstanden?«
Thymmo senkte den Blick. »Mutter und Vater ist es doch sowieso gleich, ob ich gut oder schlecht in Latein bin. Sie sind fortgegangen und haben mich vergessen.«
Johann erschrak. Zwar hatte er seinen Sohn schon häufiger traurig gesehen, doch er war überzeugt davon gewesen, dass seine Trauer über den Verlust seiner Familie vorbeigehen würde. Die Ehrlichkeit, mit der Thymmo seine wahren Gedanken nun aussprach, traf den Geistlichen hart. »Das darfst du nicht einmal denken, hörst du? Sie haben dich nicht vergessen. Denk an die Briefe, die dir deine Mutter regelmäßig schickt. Und was ist mit der Flöte, die dein Vater dir geschenkt hat? Sie mussten gehen, und sie haben dich hiergelassen, damit du eines Tages ein Domherr wirst.« Noch eine ganze Weile lang schaute Johann in das Gesicht des Jungen. Wie gerne hätte er ihm in diesem Moment alles erzählt. Dass seine Mutter mehr unter der Trennung litt, als er sich vorstellen konnte, und dass Thymmo bloß hier war, da sein vermeintlicher Vater es nicht mehr geschafft hatte, den Anblick Thymmos und somit die Erinnerung an die frühere Liebschaft seiner Gemahlin zu ertragen. So gesehen war diese Lösung tatsächlich eine aus Liebe gewesen – doch wie sollte dieses kleine Kind das jemals verstehen? Ein letztes Mal strich er dem Jungen über die strohblonden Haare, die er von seiner dänischen Großmutter hatte, und sagte: »Glaube mir, eines Tages wirst du verstehen, warum du jetzt hier bist. Gott hat noch Großes mit dir vor!«
Thymmo war zwar noch klein, doch er spürte, wenn der Geistliche etwas ernst meinte. So nickte er bloß und versuchte, tapfer zu sein.
»So ist es brav. Und nun lass uns gehen. Wir wollen den Scholastikus doch nicht warten lassen.«
Die beiden verließen Hand in Hand den Garten der Kurie. Bis zur Domschule waren es bloß ein paar Schritte. Normalerweise hätten sie einfach den Dom zu ihrer Rechten umrunden können, um von außen zur Domschule zu gelangen, die sich auf der östlichen Seite des Sakralbaus befand. Doch Johann bevorzugte es stets, mit Thymmo durch den Mariendom zu gehen.
Sie durchschritten das Portal unter dem viereckigen Turm und gelangten so in das Innere der mächtigen Basilika, an dessen Umbau zur dreischiffigen Hallenkirche noch immer gearbeitet wurde. Vor ihnen offenbarte sich das gewohnte Bild aus unzähligen Stangen und Leitern. Zu Gerüsten zusammengebaut, reichten sie bis zum Gewölbe. Schon jetzt fiel das Sonnenlicht beinahe ungehindert ins Langhaus, denn wo einst bloß niedrige Arkaden
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