Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
und schließlich zur Domschule kamen. Sie liefen die Treppe hinauf zum oberen Stockwerk, in dem sich die Schulräume befanden. Vor der dicken, oben spitz zulaufenden Flügeltür wurde es Thymmo mulmig im Bauch. Sie waren tatsächlich zu spät – ausgerechnet heute, wo Johannes von Hamme selbst den Unterricht führte, was er nur noch selten tat. Der Scholastikus würde nicht erfreut sein.
»Intrate«, ertönte es von drinnen, nachdem Johann Schinkel zweimal angeklopft hatte.
»Magister Scholarum, ich bringe Euch noch einen Eurer Schüler; allerdings mit der Bitte, ihn nicht zu tadeln. Seine Verspätung sei mir anzulasten.«
Johannes von Hamme blickte unbewegt in das Gesicht des Ratsherrn. »Ehrenwerter Ratsnotar, auch wenn Ihr es seid, der meinen Schüler entschuldigt, kann ich von einer Strafe dennoch nicht absehen – selbst nicht bei Eurem Mündel. Bei mir werden alle Schüler gleich behandelt.«
Johann hatte nichts anderes erwartet. Seit er von Hamme kannte, konnte er sich nicht an ein einziges Mal erinnern, da der überstrenge Schulmeister Gnade vor Recht hatte walten lassen. »Nun gut, wenn Ihr es denn für nötig erachtet …«, sagte Johann, ohne in seinem Tonfall zu verbergen, was er davon hielt.
»Conside te, Thymmo«, befahl der Scholastikus streng, worauf der Junge sich sofort setzte.
Johann konnte erkennen, wie unwohl sich der Junge fühlte, und am liebsten hätte er ihn wieder mit sich genommen, um ihn zu beschützen. Doch das wäre falsch gewesen. So riss er sich von dem traurigen Anblick los und schloss die Tür. Er hörte noch, wie der Scholastikus seinem Sohn auftrug, das Buch des Aelius Donatus über lateinische Grammatik aufzuschlagen, um daraus vorzulesen. Es war kein gutes Zeichen, wenn einer der Schüler etwas aus den wenigen, kostbaren Büchern des Scholastikus’ vorzulesen hatte, die nur überaus selten für den Unterricht benutzt wurden. Von Thymmo wusste Johann, dass die Schüler in jenen Momenten aufzustehen hatten, während der Schulmeister das geöffnete Buch in der einen Hand und die Rute in der anderen Hand hielt. Machte der Junge einen Fehler, setzte es Schläge.
Nur mühsam konnte Johannes dem Drang widerstehen, an der Tür zu lauschen. Stattdessen drehte er sich um und lenkte seine Schritte wieder Richtung Ausgang. Er verließ die Domimmunität und kam auf einen abschüssigen kleinen Pfad mit langgezogenen Treppenstufen namens Kattrepel. Bis er sein Ziel, das Rathaus, erreichte, waren seine Gedanken bei Thymmo. Doch als die blau glasierten Steine vor seinen Augen erschienen, richtete er seine Sinne auf seine heutigen Aufgaben. Hier würde er den Rest des Tages verbringen, denn sein Amt als Ratsnotar war mindestens so zeitaufwändig wie das des Domherrn. Kurz vor dem steinernen Portal allerdings erregte ein polterndes Geräusch seine Aufmerksamkeit.
Es war ein hölzerner Wagen, dessen grobe Räder sich laut über die unebenen Wege der Stadt quälten. Der obere Teil des Gefährts war ein Käfig, und in ihm saß ein Mann, den alle Hamburger kannten. Es handelte sich um Johannes vom Berge. Genau wie Vater Everard hatte man ihn schon bei der letzten St.-Veitsmarkt-Sitzung am fünfzehnten Juni festgenommen. Seither war sein Schicksal ungewiss – die Hamburger Ratsherren machten es sich mit seiner Strafe nicht leicht, schließlich war er noch vor wenigen Wochen einer von ihnen gewesen. Doch er konnte nicht ewig in seinem Verließ darben, darum sollte heute entschieden werden, was mit ihm geschehen würde.
Der Wagen war vor dem Rathaus zum Stehen gekommen, und man zerrte den gefesselten Mann aus seinem Käfig.
Johann konnte seinen Blick nicht abwenden, geschweige denn sich dazu überwinden, ins Innere zu gehen. Deshalb blieb er einfach, wo er war, und blickte auf die verlotterte Gestalt des einstigen Ratsherrn. Johannes vom Berge sah zum Fürchten aus. Blass, dünn, dreckig und mit tiefliegenden Augen.
»Ein schlimmer Anblick, nicht wahr, Ratsnotar?«, fragte plötzlich eine Stimme hinter ihm.
Johann Schinkel drehte sich nur kurz um und ließ seine Augen bestätigen, was seine Ohren schon hatten hören können. Es war Albrecht von Schauenburg, der Propst von Hamburg. »Ihr sagt es. Ein schlimmer Anblick. Doch noch mehr als jenes Antlitz erschreckt mich, dass ein Mann aus unseren Reihen uns so sehr hat täuschen können.«
»Dafür wird er gleich seine Strafe erhalten – wie auch immer sie ausfallen wird.«
»Auch ich bin gespannt; wenn es nach mir geht, wird dies kein
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