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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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und der Form nicht von den anderen Steinen zu unterscheiden, und dennoch kannte sie ihn genau, denn er wies eine kleine Vertiefung in seiner Mitte auf. Die Chorschülerin zog den Stein aus der Wand und fingerte dahinter herum. Kurz dachte sie, es wäre verschwunden, doch bevor der Schrecken sich in ihr ausbreiten konnte, ertastete sie das kleine Leinenbündel, zog es hervor und steckte es ein. Geschafft, jetzt musste sie nur noch ein paar Vorräte zusammensuchen.
    Tybbe knotete sich ihr Bettleinen um die Schulter. In den so entstandenen Beutel stopfte sie Brot, Käse und ein paar Äpfel. Auch der Feuerstein und das Schlageisen, die wie immer neben der Feuerstelle lagen, gelangten ihr in die Finger. Gerade wollte sie sich auf die Suche nach weiteren nützlichen Dingen machen, als die Tür zur Küche geöffnet wurde. Tybbe erstarrte.
    »Nun komm schon, Katharina. Hier unten wird uns niemand hören …«, versuchte eine männliche Stimme die Magd zum Mitkommen zu überreden. Es war der Propst!
    »Aber was ist, wenn uns doch jemand hört?«
    »So ein Unsinn, nun komm schon!«
    Tybbe drückte sich ängstlich an die Wand. Niemals hätte sie geglaubt, dass um diese Zeit jemand die Küche betreten würde und schon gar nicht der Propst und eine der Mägde. Was um Himmels willen wollten sie hier? Sie wagte kaum zu atmen, versuchte zu hören, wo die beiden hintraten. Für einen kurzen Moment packte sie die Angst, dass sie ein Talglicht entzünden würden, doch sie irrte sich. Stattdessen war zu vernehmen, wie die beiden wild übereinander herfielen. Schmatzende Geräusche, das Flattern von zu Boden geschleuderter Kleidung und ein immerwährendes, unterdrücktes Kichern verrieten Tybbe, dass sie abgelenkt waren. Den Geräuschen nach zu urteilen, begaben sich die zwei nun in Richtung Tisch, und ein kurz darauf folgendes rhythmisches Pochen, ausgelöst durch die schweren Holzbeine des Tischs, welche sich auf dem Boden unter den harten Stößen des Propstes bewegten, bestätigte dies.
    Tybbe war erschrocken und trotzdem so erleichtert, dass sie es jetzt endlich wagte, die Küche zu verlassen. Unbemerkt schlich sie durch die noch geöffnete Tür hinaus, jedoch nicht ohne die Kleidung der beiden mitzunehmen.
    Dann ging alles ganz schnell. Ein letztes Mal betrat sie ihren geliebten Klostergarten. Wie gern hätte sie einen Moment verweilt und sich noch einmal in Ruhe umgesehen. Doch die Furcht davor, dass sie der Mut verlassen würde, war stärker. So ging sie zu der Stelle unter den Obstbäumen, die sie schon einmal genutzt hatte, um über die Mauer zu gelangen. Flink kletterte sie die Äste entlang und sprang schließlich auf die andere Seite. Jetzt, wo zwischen ihr und dem Kloster eine Mauer lag, schaute sie noch einmal zurück. Wehmut erfasste sie. Es waren schöne Jahre hier gewesen, wenn auch die Strenge Mutter Hesekes es ihr nicht immer leicht gemacht hatte. Dennoch, sie hätte sowieso gehen müssen – schließlich sollte sie heiraten. Wenn diese Nachricht sie nicht ereilt, und wenn sie die Spielleute nie getroffen hätte, wäre sie mit Freude für immer geblieben und hätte das Gelübde abgelegt. Doch es war anders gekommen, und nun blieb ihr nur zu hoffen, dass ihr nächster Plan so gut funktionierte wie das Überwinden der Klostermauern.
    Es würde noch lange nicht hell werden. Bloß der halbe Mond spendete etwas Licht. Tybbe erkannte die Umrisse der Bäume und des Weges. Sie wusste zwar nicht, wo die Mühle lag, in der Bentz arbeitete, doch sie wusste, in welche Richtung sie gehen musste, um nach Buxtehude zu gelangen. Gott sei Dank konnte sie die Este gluckern hören, welche neben ihr floss. Auch sie würde ihr den Weg weisen – eine Mühle brauchte schließlich Wasser.
    Das Glück war ihr auch diesmal hold – jedenfalls bis hierhin –, denn nur kurze Zeit später sah sie das gewaltige Mühlrad im silbrigen Licht des Mondes. Langsam näherte sie sich. Alles schien still zu sein. Auffällig still. Weder hörte sie Stimmen, noch das Knirschen der Zahnräder oder das Rattern des hölzernen Rades. Ganz plötzlich wurde sie daran erinnert, dass außerhalb des Klosters eine andere Zeiteinteilung herrschte. Natürlich war hier noch keiner erwacht und an der Arbeit! Tybbe war der Ablauf des Klosters so geläufig, dass sie ihn einfach vorausgesetzt hatte. Sie kam sich unglaublich dumm vor. Bentz hatte sie damals zu Recht verspottet. In ihren Gedanken hatte sie im Inneren der Mühle tatsächlich ein Licht brennen und aus dessen

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