Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
geöffneter Tür eine immerwährende Staubwolke austreten sehen. Das jedoch war bloß die Vorstellung einer bislang vor der Welt versteckten Chorschwester. Die Wahrheit war, sie hatte überhaupt nicht großartig nachgedacht. Und nun geriet ihr Plan ins Stocken. Entmutigt kauerte sie sich an den Stamm einer Trauerweide, deren Zweige in die Este hingen. Was sollte sie nun tun? Wenn sie noch lange wartete, würde man ihr Fehlen bei der Vigil bemerken. Wenn sie sich aber zu erkennen gab und Bentz zu wecken versuchte, bestand die Möglichkeit, dass sie jemand sah, der sie nicht sehen sollte.
Tybbe lehnte ihren Kopf an den Stamm. Während sie so dasaß und in die Dunkelheit starrte, hatte sie Zeit nachzudenken. Noch konnte sie zurück. Keiner würde je etwas von dieser Nacht erfahren, und alles wäre wie immer. Nein. Blödsinn, schalt sie sich. Gar nichts wäre wie immer. Es gab kein Zurück mehr. Man würde sie holen und auf irgendeine Burg bringen, und dann würde sie niemals erfahren, was sie so gerne wissen wollte. Schnell fasste sie wieder Mut, stieß sich von dem Baumstamm ab und stand auf. Sie würde gehen, jetzt gleich. Es blieb keine Zeit, länger zu warten.
Gerade hatte sie den ersten Schritt getan, da trat ein Mann aus der Mühle. Tybbe konnte einen Schrei im letzten Augenblick noch mit der Hand unterdrücken. Es war Bentz.
Bereits während er lief, fingerte er an seiner Mitte herum. Dann stellte er sich breitbeinig ans Wasser. Es plätscherte.
»Bentz«, flüsterte Tybbe so vorsichtig sie konnte und trotzdem so laut es ging. Die Aufregung ließ sie zittern.
Der Angesprochene wäre vor Schreck fast in die Este gefallen. Im letzten Moment konnte er sich fangen und vor allem sein Gemächt wieder verpacken. »Bei allen Heiligen, Tybbe! Was machst du hier, und wieso erschreckst du mich so? Jetzt habe ich mich angepisst.«
Die Chorschülerin missachtete diese Auskunft und platzte stattdessen gleich mit ihrem Vorhaben heraus. »Ich bin aus dem Kloster geflüchtet, aber versuche nicht, mich wieder zurückzubringen.«
»Du bist was ? Sag mal, hast du die falschen Kräuter gegessen? Bist du verrückt geworden? Natürlich bringe ich dich zurück!«
»Dann werde ich eben ohne dich gehen.«
»Gehen?«, fragte Bentz erschrocken. »Wohin?«
»Nach Kiel!«
»Was? Warum nach Kiel?«
»Weil der Spielmann sagte, er lernte das Lied in Kiel. Vielleicht bekomme ich dort meine Antworten.«
»Bist du jetzt von Sinnen? Du willst allein den Weg nach Kiel antreten? Willst du etwa von fremden Männern in die Büsche gezerrt werden, du dummes Ding?«
»Nein Bentz, natürlich nicht. Deshalb bitte ich dich: Komm mit mir! Was hast du schon zu verlieren?«
»Bentz!«, schrie es plötzlich aus der Mühle.
Der Gehilfe schaute sich ruckartig um, fasste Tybbe grob am Arm und riss sie mit sich hinter einen Baum. Hier schüttelte der Knecht des Müllers energisch den Kopf. »Du weißt nicht, was du redest, Tybbe! Bevor ich dich kannte, habe ich so gelebt, wie du es gerade im Begriff bist tun zu wollen. Unter freiem Himmel, ohne warme Kleidung und ohne zu wissen, wann ich das nächste Mal etwas Warmes zu essen bekommen würde. Ich habe einiges zu verlieren – und du übrigens ebenso! Wie stellst du dir das überhaupt vor? Du spazierst von hier los und sammelst Brot von den Bäumen? Pah, du redest, bevor du nachdenkst, Mädchen! Geh zurück! Und das am besten noch vor dem ersten eurer zig Gottesdienste, der sicher bald beginnt.«
»Aber ich habe bereits Brot und warme Kleidung. Und etwas zum Tauschen habe ich auch.« Tybbe holte das Leinensäckchen hervor und schüttete den Inhalt in ihre hohle Hand. Zwei Goldringe, eine Kette und ein Armreif kamen zum Vorschein.
»Woher hast du das?«, fragte Bentz fassungslos. »Bist du jetzt auch noch ein Dieb?«
»Nein, es gehörte zu meiner Schenkung, die dem Kloster damals für meine Aufnahme überlassen wurde. Einen Teil habe ich dem Propst übergeben, wie ich es sollte, und einen Teil habe ich einfach behalten.«
»Also gehört es dem Kloster …«
»Etwas, das man nie weggegeben hat, kann man auch nicht stehlen.«
Bentz fuhr sich mit der Hand über sein stoppeliges Kinn. Er war der Verzweiflung nahe. Was sollte er nur tun? Eines war jedoch sicher: Er konnte Tybbe nicht allein lassen!
Die junge Frau spürte, dass der Müllersgehilfe haderte. Sie hatte keine Zeit mehr zu warten. »Wenn du nicht mit mir kommen willst, dann gehe ich allein.« Schon machte sie kehrt. Es war ihr ernst, also
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