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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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ließ sie ihn einfach stehen.
    Bentz schaute ihr entsetzt nach. »Tybbe! Tybbe, was hast du vor? Komm sofort zurück! Tybbe!«
    Die Chorschülerin hörte nicht auf seine Worte. Sie hatte ein Ziel vor Augen, und sie würde sich nicht mehr aufhalten lassen.
    Hin- und hergerissen blickte er ihr nach. Ihr Schritt war so entschlossen, dass er mit einem Mal wusste, er hatte keine Wahl mehr. Niemals würde er sie dazu bewegen können umzukehren. Drum lief er schnell in die Mühle, griff sich unbemerkt seine wenigen Habseligkeiten und rannte ihr hinterher. Er packte ihre Hand und sagte: » Wir müssen zurück zum Fluss. Der Müller hat ein kleines Boot, mit dem wir übersetzen können. Los, komm, es bleibt uns nicht mehr viel Zeit, dann ist er uns auf den Fersen. «
    Im spärlichen Licht der Nacht setzten sie über. Auf der anderen Seite des Ufers angekommen, stieß Bentz das Boot mit dem Fuß an, auf dass es langsam flussabwärts schwamm. Von hier aus warf er einen letzten Blick auf sein altes Zuhause. Leise und nur zu sich sagte er: »Lebe wohl Buxtehude, ich werde nie mehr zurückkehren können!«
    Sie liefen den ganzen Tag hindurch. Erst als langsam die Nacht hereinbrach, hielt Tybbe Bentz an. »Stopp. Keinen Schritt weiter. Ich kann nicht mehr. Ich muss mich ausruhen.«
    »Wir müssen weiter, Tybbe. Was ist, wenn sie uns verfolgen?«
    »Das ist mir gleich. Ich kann nicht mehr!«, sagte sie vollkommen außer Atem.
    Bentz schaute den Weg entlang, den sie gekommen waren. Schnurgerade führte er durch den Wald. Jedermann, der diesen Weg einschlug, würde sie sogleich sehen können. »In Ordnung. Wir rasten. Aber nicht hier am Weg. Komm mit in den Wald.«
    Beide drangen sie tief ins Dickicht vor. Bentz trieb Tybbe weiter und weiter, bis sie endlich eine geeignete Stelle erreichten. Sein Drängen hatte sich gelohnt. Sie waren an einer Waldlichtung angelangt, an deren Rand sich ein kleiner Fluss mit sauberem Wasser schlängelte. Hier ließen sie sich ins weiche Moos fallen. Beseelt von dem sicheren Gefühl, an diesem verlassenen Platz unmöglich entdeckt werden zu können, fiel alle Anspannung von ihnen ab. Ein Blick genügte, um gewiss zu sein, dass der andere ebenso dachte.
    Wenig später machte Tybbe sich auf die Suche nach einem bestimmten Pilz, und zu ihrem Glück fand sie nicht weit entfernt von ihrem Lager etwas Zunderschwamm, der halbkreisförmig an Birken und Buchen wuchs. Zusammen mit dem geklauten Feuerstein und d em Schlageisen entfachte sie ein nächtliches Lagerfeuer, an dem sie sich schweigend wärmten und dabei in die gelben Flammen blickten. Nachdem sie noch etwas von ihren Vorräten gegessen hatten, waren beide so erschöpft, dass sie bald darauf in einen tiefen Schlaf fielen.
    Als Bentz am nächsten Tag erwachte, lag Tybbe neben ihm in der Sonne. Sie hatte die Augen geschlossen. Ihr Chorschülerinnen-Schleier war nach hinten verrutscht und gab zwei Fingerbreit ihres Haars frei. Es glänzte im hellen Mittagslicht und bildete einen starken Kontrast zu ihrer Haut. Wie schon so oft in den letzten Tagen, da er die Klostermauer ausgebessert hatte, fiel es ihm auch jetzt mal wieder auf: Tybbe war wirklich außergewöhnlich schön! Leider auch außergewöhnlich mutig. Er hatte keine Ahnung, ob es richtig gewesen war, Buxtehude mit ihr zu verlassen, doch eines wusste er dafür ganz genau: Er wollte sie beschützen – und das hatte schon längst nichts mehr mit seiner einstigen Aufgabe zu tun. Als Tybbe erwachte, sagte er zu ihr: »Wir müssen deine Kleidung loswerden. So auffällig kannst du nicht herumlaufen.«
    Tybbe grinste. »Ich habe an alles gedacht.« Dann zog sie die Kleidung aus ihrem verknoteten Laken hervor. »Als ich den Schmuck aus meinem Versteck geholt habe, habe ich den Propst beim Liebesspiel mit einer der Mägde ertappt. Dies hier sind ihre Kleider.«
    » Du hast ihnen die Kleider genommen?«
    »Ja, und ich bin mir sicher, Gott verzeiht mir das, angesichts ihrer Sünde, die ja wohl viel schwerer wiegt als mein Diebstahl.«
    Jetzt musste Bentz gegen seinen Willen lachen. Die Vorstellung von zwei Nackten, die im Dunkeln vergeblich nach ihren Kleidern suchten, war einfach zu komisch.
    Sie zogen sich um, und wenig später sah Tybbe aus wie eine Magd und Bentz wie ein Geistlicher. Dann machten sie sich wieder auf den Weg. Sie liefen, soweit sie ihre Füße trugen und soweit das Tageslicht sie führte. Dann suchten sie sich ein Nachtlager. Jener Ablauf wiederholte sich Tag für Tag und Nacht für Nacht.

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