Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
das Stroh roch einigermaßen frisch, und es gab eine geöffnete Fensterluke, aus der sie die Dächer der Stadt sehen konnten.
Während Bentz die Tür schloss und sich sofort auf einen der Strohsäcke warf, ging Tybbe hinüber zur Fensterluke. Eine Weile lang blickte sie stumm von links nach rechts. Immer wieder blieb ihr Blick an etwas haften. Da war ein Kirchturm und dort ein besonders hohes Gebäude, welches sicher das Rathaus war, und natürlich die Burg, die über allem thronte. An den vielen neu anmutenden Häusern der engen Gassen war deutlich zu sehen, dass in der Stadt fleißig gebaut wurde und sich ihr Bild sicher von Jahr zu Jahr stark veränderte. Viele Menschen schienen innerhalb der Mauern zu wohnen, obwohl hier nicht viel Platz war. Mit Sicherheit kannte einer von ihnen Sibot, den sagenhaften Spielmann.
Ein letztes Mal ließ Tybbe den Blick schweifen. Gerade tauchte die untergehende Sonne die Stadt in ein warmes Orange. Fast sah es aus, als würde sie brennen. Ein beeindruckendes Bild, was sie einerseits anzog und andererseits abstieß. Dennoch wäre sie am liebsten gleich hinausgestürmt und hätte sich auf die Suche begeben. Aber was genau suchte sie eigentlich? Sie wusste keine Antwort darauf, denn alles, was sie hierher geführt hatte, war ein einziges Lied – gesungen von einem fremden Spielmann!
Bentz regte sich auf seinem Strohsack. »Komm, wir gehen hinunter und essen etwas. Ich sterbe vor Hunger.«
Tybbe riss sich vom Anblick der Stadt los und schloss die Luke.
»Wohin willst du als Erstes gehen?«, fragte Bentz am nächsten Morgen, und blickte um sich, als sie aus der Herberge traten. Vor ihm lag die Flämische Straße, in der bereits zu dieser frühen Stunde viele Kieler unterwegs waren.
Tybbe schaute einen Moment lang umher, während sie ihre Augen mit der flachen Hand vor dem Sonnenlicht abschirmte. Dann erstarrte sie plötzlich in ihrer Bewegung und rief aus: »Die Burg!« Den Blick fest an einen Punkt in der Höhe geheftet, wo bloß ein Stück des Turms über den Häuserdächern zu sehen war, stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen.
»Was meinst du?«
»Ich meine, dass wir zur Burg gehen sollten. Dort kennt man den Spielmann Sibot bestimmt, vorausgesetzt, er war wirklich schon einmal hier, dann war er auf jeden Fall auf der Burg!«
Bentz zögerte kurz, trotzdem sagte er: »Gute Idee, lass uns gleich gehen.« Seine wahren Gefühle ließ er sich jedoch nicht anmerken.
Gemeinsam liefen sie die leichte Steigung hinauf, auf der er fast Probleme hatte, mit Tybbe Schritt zu halten, so beflügelt war sie von ihrem Einfall. Erst als sie kurz vor den Mauern der Burg waren, wurde sie langsamer.
Bentz gab zu bedenken, was auch ihr gerade in den Sinn gekommen war. »Ich glaube nicht, dass wir einfach dort reinspazieren können, Tybbe.«
»Da magst du recht haben. Was schlägst du vor?«
»Bleib du hier, ich werde mit dem Wachmann reden.« Bentz ließ Tybbe zurück und schritt auf den dicken Kerl zu, der ihn schon von weitem ansah, als ob er ihn am liebsten aufspießen würde. Während er näher an den Mann herantrat, legte er sich seine Worte zurecht. Ein letztes Mal blickte er zurück zu Tybbe, die nun außer Hörweite war.
»Was wollt Ihr hier, Kirchenmann?«
Bentz lächelte und hielt mit einer Mannslänge Abstand vor dem Wachhabenden an. »Ich will dir nichts Schlechtes, mein Sohn. Aber du siehst aus, als könntest du eine Beichte vertragen.«
»Wovon sprecht Ihr?«
Er zog eine Augenbraue hoch, schaute auf den dicken Bauch des Mannes und fragte: »Hast du dich in letzter Zeit nicht etwas der Zügellosigkeit hingegeben? Ich könnte dein Gewissen erleichtern – gegen ein paar Pfennig, gegen Wein oder Käse.«
»Was? Ihr habt wohl zu viel Sonne abbekommen. Verschwindet«, sagte der Dicke schon hörbar erbost.
Bentz hatte fast, was er wollte. Nur noch einen Satz brauchte es für seinen Zweck, doch dieser barg besondere Gefahr. Leise, fast schon geflüstert, sagte er: »Wenn du mich nicht entsprechend entlohnen kannst, dann frag doch mal dein Weib, ob sie dir aushilft.«
In diesem Moment schrie der Wachmann auf. »Mach dass du verschwindest, du Hundsfott! Hinfort und zwar schnell, bevor ich dich in meine Finger kriege.«
Bentz rannte los, packte Tybbe beim Arm und hielt erst zwei Straßen weiter an.
Völlig außer Atem fragte Tybbe: »Was war das denn?«
»Ich würde sagen, ein Wachmann mit äußerst schlechter Laune. Ich hatte den Namen Sibot kaum ausgesprochen, da schrie er
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