Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
herum.«
Christian lachte bitter. »Wie wahr. Wahrscheinlich hat sie dort drei Rollen Tuch geschultert und versteckt diese gerade irgendwo im Haus vor mir.«
Runa konnte sich ein Grienen nicht verkneifen, auch wenn sie natürlich der Meinung war, dass Christian übertrieb.
»Schscht!«, ertönte es plötzlich von hinten, was sie erst darauf aufmerksam machte, dass das Fest begann. Wenig später ertönte der eindringliche Gesang vieler Knabenkehlen. Und erst nach den üblichen Psalmen und Hymnen, die jeder Messe vorangingen, begann die eigentliche Weihe.
Giselbert von Brunkhorst zog mit einem Tross, bestehend aus den Domherren, seinen Archidiakonen des Bistums, den Hamburger Pfarrvikaren, den Mönchen und Beginen, allen Schülern des Marianums und der Nikolaischule, den Ratsherren und den Grafen um den Dom, um die Lustration zu vollziehen. Bei jener symbolischen Reinigung wurden die Außenwände des zu weihenden Seitenschiffs mit Gregorianischem Wasser aus Asche, Wein, Salz und Weihwasser besprenkelt. Dann kam der feierliche Wiedereinzug in das Langhaus, wobei auch der Innenraum auf jene Weise benetzt wurde, bis die Prozession mit ihren Vortragekreuzen, den Baldachinen und den Fahnen wieder den Bereich vor dem Altar erreichte. Hier ehrt e der Erzbischof eine besondere Märtyrerreliquie, ein Stück von dem Rost des heiligen Laurentius, und folgte dann dem Alphabetritus, dessen Zeichen auf dem Boden die Besitznahme der Kirche durch Christus kennzeichnen sollten. Dabei ließ der Erzbischof kostbaren Weihrauch und viele Wachskerzen entzünden – auf jedem Altar, an jeder Säule, und alle gleichzeitig. Das warme Licht hatte wahrlich etwas Göttliches, und die darauf ertönenden Gesänge taten ihr Übriges zur feierlichen Stimmung.
Der Hauptteil des Weihefestes war schon längst vorüber, da stieß Runa Christian an. »Da drüben ist Ava. Wie es scheint, ist es einfach zu voll, um hindurchzukommen.«
Ava schaute zu ihnen herüber und machte eine Geste, die genau jene Vermutung bestätigte, worauf sie nur ein Augenrollen von ihrem Gemahl erntete, der ohne Zweifel verstimmt wegen ihrer Verspätung war. In seinem Ärger bemerkte er gar nicht, wie blass sie aussah. Niemand bemerkte das.
Ava war allein mit ihren Gedanken, die sie nicht einmal selbst zu ordnen vermochte. Immer wieder glitt ihr Blick zu Ehler, der sich gerade so auf den Beinen zu halten schien. Dabei hörte sie kein Wort des Erzbischofs. Fast war es ihr, als stünde sie allein mit ihrem Erstgeborenen in diesem großen Gotteshaus.
Das letzte Amen, das jeder Gläubige laut und deutlich mitsprach, um seine Zustimmung zu besiegeln, war noch nicht verklungen, als eine Seite der großen, schweren Flügeltür knarrend geöffnet wurde. Alle Köpfe wandten sich um, und sie sahen einen Diener, dem der Schrecken ins Gesicht geschrieben stand.
»Der Ratsnotar!«, rief er fast schon außer sich. »Ich brauche Hilfe. Schnell!« Seine Stimme überschlug sich fast.
Giselbert von Brunkhorst stellte das Kreuz in seiner Hand zurück auf den Altar, ohne den Blick von dem Diener zu nehmen. Ihm war bereits aufgefallen, dass Johann Schinkel fehlte.
Noch bevor der Geistliche etwas sagen konnte, schob Werner die zweite Flügeltür mit beiden Händen auf und begann zu schreien: »So bewegt Euch doch endlich, ihr Leute! Ich sagte, ich brauche Hilfe! Der Magister wurde niedergestochen!« Jetzt war der Blick frei auf seinen blutenden Herrn, den er auf den Schultern durch die menschenleere Stadt zum Dom geschleppt hatte, um ihn vor dessen Portal niederzulegen.
Die Beginenschwestern waren die Ersten, die losliefen, dann die Ratsherren. Wenig später war eine Traube von Menschen um Johann Schinkel versammelt, der regungslos am Boden lag. Jede feierliche Stimmung war in diesem Augenblick dahin.
Der Erzbischof sowie der Bürgermeister eilten den Gang durch die Gläubigen entlang, wo Werner ihnen auch schon entgegenkam.
»Lebt er noch?«, fragte Hartwic von Erteneborg gehetzt.
»Ja, doch sein Herz wird schwächer. Ich weiß nicht, ob er es schafft.«
»Wer? Wer tut so etwas?«, fragte nun Giselbert von Brunkhorst anklagend und schlug ein Kreuz.
Der Diener des Ratsnotars schaute ihm ins Gesicht. Sein Blick war eindringlich, seine Stimme eher unsicher. »Ich befürchte, ich weiß, wer es war.«
»Was sagst du? Woher? Sprich schon!«
Auch Hartwig von Erteneborg forderte nun barsch: »Sag es! Sofort! Was weißt du?«
Werner focht einen inneren Kampf aus. Konnte er es wirklich über
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