Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
mehrere Stadttore abzusuchen, hoffte er einfach darauf, dass Vater Everard über den Rhein setzen musste, um nach Friesland zu gelangen. So rannte er zu den Fähren. Auf dem Weg dorthin stieß er rücksichtslos alles und jeden zur Seite, und schon bald konnte er die Fähre sehen, die gerade von den Wartenden bestiegen wurde. Unter ihnen war tatsächlich Vater Everard!
Noch ein letztes Mal beschleunigte er seinen Schritt, die Fähre war so gut wie voll beladen. »Halt! Wartet auf mich! Noch nicht losfahren …«, schrie er dem Fährmann atemlos zu, der anscheinend einen guten Tag hatte und Kuno noch einsteigen ließ. Gleich darauf hielt er jedoch die Hand auf, um für die Fahrt zu abzurechnen.
Kuno sah ihm in die Augen. Jetzt kam es drauf an. »Er da vorne zahlt für mich«, keuchte er mit letzter Luft und wies auf Everard.
Dieser drehte sich abrupt um, als er Kunos Stimme vernahm. Sein Mund öffnete sich, doch er war zu erstaunt, um etwas zu sagen. Plötzlich sah er die Handfläche des Fährmanns vor sich.
»Der Kerl sagte, Ihr zahlt für ihn. Stimmt das, oder soll ich ihn wieder rausschmeißen.«
Everard blickte Kuno fassungslos an. Nicht genug damit, dass er ihm alles gestohlen hatte, was er besaß, es jetzt noch nicht einmal im Ansatz zurückgegeben hatte, dann auch noch seinen Wunsch missachtete, alleine reisen zu wollen, nein, jetzt sollte er auch noch für ihn bezahlen! Am liebsten hätte Everard dem Fährmann gesagt, er solle ihn über Bord ins Wasser werfen, doch irgendetwas hielt ihn zurück. So nahm er eine der letzten von Kuno zusammengestohlenen Münzen zur Hand und zahlte für Kuno, wenn auch zähneknirschend. »Deine Dreistigkeit ist scheinbar grenzenlos. Werde ich dich denn niemals mehr los?«
Als Kuno sich unterwürfig bedanken wollte, gebot Everard ihm sofort Einhalt. »Du bist still, hast du verstanden? Ich will nichts von dir hören, außer Gebete. Selbst wenn du von hier bis nach Sandstedt durchgehend betest, ist das, was du mir angetan hast, noch nicht im Geringsten gesühnt. Darum unterstehe dich, mir weiterhin dein leeres Geschwätz aufzuzwingen. Wenn du mir folgen willst, dann nur nach meinen Regeln, kapiert?«
Kuno nickte, faltete die Hände und begann zu beten.
Johann Schinkel hatte sich extra beeilt. Schnell war er zum Rathaus gelaufen, bloß um sich für die heutige Ratssitzung mit der Ausrede zu entschuldigen, anderen unverschiebbaren Tätigkeiten nachkommen zu müssen. Das war allerdings nur die halbe Wahrheit. Zwar hatte sein Diener Werner ihm heute Morgen tatsächlich ein Schreiben des Dompropstes Albrecht übergeben, in dem dieser um ein Treffen in der Bibliothek zur Mittagsstunde bat, doch war die Mittagsstunde noch einige Zeit entfernt. Zum Glück aber konnte niemand seine Gedanken lesen, weshalb der wahre Grund seiner Abwesenheit auch sein Geheimnis bleiben würde.
Nahezu lautlos trat er durch das Portal des Mariendoms. Schon von hier konnte er die Stimme des Gesangslehrers hören, der die Chorschüler im cantus minor unterwies.
»Wie ihr alle sicher schon mitbekommen habt, ist heute ein neuer Schüler zu uns gekommen …«
Der Ratsnotar bekam gerade noch mit, wie Heinrich Bars seine begrüßenden Worte an Thymmo richtete, während er näher an den Chor heranschlich. Seine Freude darüber, es doch noch rechtzeitig zur Probe geschafft zu haben, ließ ihn lächeln. Von seinem versteckten Platz aus suchten seine Augen die Gesichter der Chorschüler ab, dann entdeckte er Thymmo, und sein Herz machte einen Sprung.
Der Junge schaute zwar etwas verängstigt, als der Kantor mit lauter Stimme begann, etwas zum tiefen Atmen beim Singen zu erzählen, dennoch ahnte Johann schon jetzt, dass es richtig war, was er getan hatte. Nach dem Gespräch mit Walther vor fast zwei Wochen war er ins Grübeln gekommen. Der Spielmann hatte einen entscheidenden Satz gesagt, nämlich, vielleicht gibt es ja etwas anderes, in dem der Junge Talent beweist . Seither war Johann auf die Suche nach diesem Talent gegangen, denn er wollte etwas finden, das Thymmo Freude bereitete und das ihn von seinen verhassten Lateinübungen ablenkte. Der Chor schien ihm dafür genau die richtige Wahl – vorausgesetzt, sein Sohn bewies Talent. Nun, in der heutigen, allerersten Gesangsstunde, sollte sich entscheiden, ob Thymmo dem Lehrer zusagte.
»Jetzt, wo ich euch etwas über das Atmen erklärt habe, werden wir gleich anfangen, das Laetabundus in organis zu proben – wie es der cantus minor jedes Jahr um diese Zeit
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