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Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)

Titel: Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Tan
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tut. Bis zum Kinderbischofsspiel sollte schließlich ein jeder von euch in der Lage sein, es zu singen.«
    Die Kinder begannen sofort begeistert miteinander zu reden. Heinrich Bars musste laut dazwischengehen. »Aber, aber, meine Schüler. Was ist denn das für ein Betragen? Still, seid still jetzt!« Nachdem die Jungen wieder brav waren, sagte er: »Ich verstehe ja, dass ihr aufgeregt seid, aber wenn ihr jetzt nicht folgsam tut, was ich euch sage, dann werdet ihr wohl kaum in der Lage sein, eure Eltern am Fest der umgekehrten Ordnung mit eurem Können stolz zu machen.« Jetzt hörte auch der Letzte wieder zu, wollten sie doch alle, dass ihre Mütter und Väter sie lobten, wenn sie einmal anstelle der Erwachsenen die klerikalen Ämter einnahmen. Heinrich Bars fuhr fort: »Nun gut, wer kann unserem Neuankömmling erklären, warum wir das Laetabundus in organis proben müssen?«
    Alle Kinder außer Thymmo hoben gleichzeitig die Hände, um zu signalisieren, dass sie die Antwort kannten. Der Lehrer grinste zufrieden wegen des nun wieder eifrigen Verhaltens seiner Schüler, und zeigte auf Ribo, der auch sogleich losplapperte.
    »Wir müssen es proben, weil wir es am achtundzwanzigsten Dezember, am Ende des Kinderbischofsspiels, zur Messe singen werden.«
    »Sehr wohl, Ribo. Diese Antwort ist natürlich richtig. Wer kann mir noch mehr über dieses heilige Fest sagen? Lukas? Du vielleicht?«
    Der angesprochene Junge nickte. Es war nicht zu überhören, dass auch er sich auf diese Zeit freute – wie alle Kinder der Stadt: »Am Vorabend des St. Andreastages wird ein Kinderabt erwählt, am St. Nikolaitag, dem sechsten Dezember, dann ein Kinderbischof, der zu allen Festtagen und Sonntagen zwischen St. Nikolai und dem Tage der unschuldigen Kinder als Bischof gekleidet mit Stab und Mitra zur Messe und zur Vesper erscheint.«
    »Das hast du schön gesagt«, lobte der gutmütige Heinrich Bars seinen Schüler. »Wer erzählt mir nun, was am letzten Tag des Festes passiert? Hinrich?«
    »Jener Tag wird besonders feierlich begangen. Nach der Messe und dem Gesang gibt es im Refektorium ein Mahl. Dann reiten wir Kinder durch die Stadt, und danach legt der Kinderbischof seine Kleidung und sein Amt wieder ab.«
    »Danke, sehr gut, auch das ist richtig. Nach dem Singen und der Prozession ist jenes Episkopat zu Ende. Doch damit es überhaupt dazu kommt, und damit der zukünftige Kinderbischof sich nicht lächerlich macht, müssen wir üben. Denkt daran, jeder von euch könnte gewählt werden – und darum lasst uns keine Zeit verlieren.« Der Domherr ließ seinen Blick über die Gesichter seiner Schüler schweifen und sah schließlich Thymmo an. »Wollen wir unseren neuen Schüler doch willkommen heißen, indem er den Anfang machen darf. Thymmo, tritt bitte vor«, sprach Heinrich Bars auffordernd.
    Der Junge tat wie ihm geheißen und wurde schlagartig rot im Gesicht.
    »Und nun wiederhole, was ich dir vorsinge. Versuche so zu atmen, wie ich es euch eben vorgemacht habe, und öffne deinen Mund weit, damit deine Stimme frei aus dir herauskommen kann.«
    Der Kantor sang die erste Zeile des Laetabundus in organis . Seine Stimme hallte kräftig und klar durch den Dom und klang so geübt, dass sie einen Chorschüler mehr einschüchterte denn ermutigte. Doch seine freundliche Art ermunterte die Jungen stets.
    Auch Thymmo behielt seine Aufregung im Griff. Er atmete tief ein, öffnete den Mund und sang mindestens ebenso laut, jedoch in der hohen Tonlage eines Knaben, die vorgesungene Zeile nach.
    Als er geendet hatte, war der Chorleiter voll des Lobes. »Gut gemacht, Thymmo. Wirklich gut!« Dann wandte er sich wieder an die anderen Jungen. »Habt ihr gehört, wie kraftvoll eine Stimme klingen kann, wenn man bis hier in den Bauch einatmet?« Der Kantor wies auf eine Stelle über seinem Bauchnabel. »So soll es klingen, wenn wir für unseren Herrgott im Himmel singen, habt ihr verstanden?«
    Die Kinder bejahten lautstark.
    »Gut, dann singen wir noch einmal gemeinsam. Auf mein Zeichen …«
    Johann Schinkel schaute seinem Sohn noch einen Moment lang mit vor Stolz geschwellter Brust zu. Augenscheinlich schien er Spaß am Singen zu haben. Ob das der Richtigkeit entsprach, würde er spätestens heute Abend in der Kurie erfahren. Auch wenn er am liebsten bis zum Ende zugesehen hätte, wurde es jetzt Zeit zu gehen. Leise und unbemerkt machte er sich auf den Weg. Er durchschritt den Dom und erreichte nur wenig später die Tür zur Bibliothek, wo er den

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