Das Vermächtnis des Ratsherrn: Historischer Roman (German Edition)
wollte. Aber wohin sollte er sonst gehen? Die schlichte Wahrheit war, dass es nur eine einzige Möglichkeit gab, und diese Möglichkeit beinhaltete gleichzeitig die Entscheidung für ein Leben in Armut – jedoch wenigstens für ein Leben in Freiheit!
Am nächsten Morgen stand sein Entschluss fest. Ohne Kuno Bescheid zu geben, war Everard in aller Frühe aus ihrem kalten Unterschlupf gekrochen, der nicht viel mehr war als ein Bretterverschlag in einem verdreckten Hinterhof eines halb zerfallenen Hauses. Hier weilten sie nun schon seit drei Tagen und hüllten sich Nacht für Nacht auf dem bloßen Boden in ihre Mäntel.
Everard tat jeder Knochen weh. Er musste sich bewegen, auch wenn der bedeckte Himmel nicht dazu einlud, nach draußen zu gehen. Dennoch trat er auf die Straße, seine Füße taten ihre Schritte wie von selbst. Ein letztes Mal begab er sich zum Dom, wo er endlich das tun wollte, weshalb er eigentlich gekommen war – jedoch nicht für Gerhard II., sondern für sich. Gemächlichen Schrittes trat er in den Arkadenhof und hielt auf den halbrunden Vorbau des westlichen Teils des alten Doms zu, der von zwei runden Türmen flankiert wurde. Er ließ sich von der wogenden Masse aus unzähligen Pilgern ins Innere treiben, deren Leiber irgendwann begannen, sich hintereinander aufzustellen. Dann konnte Everard ihn sehen: den goldenen Dreikönigenschrein!
In der Form einer dreischiffigen Basilika überragte seine Länge die eines sehr großen Mannes noch bei weitem. Zahlreiche Figuren zierten seine Seiten, die von runden Bögen umrandet wurden. Der Glanz der einzigartigen Goldschmiedearbeit schien einen regelrecht zu blenden.
Wie von selbst fiel Everard auf seine Knie und rutschte ehrfürchtig an dem Schrein vorbei, genau wie es alle anderen Pilger vor ihm taten. Es blieb keine Zeit zum Verweilen, hinter ihm warteten bereits zig Männer und Frauen aus aller Welt darauf, den Aufbewahrungsort der Heiligen Drei Könige ebenso zu sehen. Nur wenige Augenblicke später war Everard auch schon wieder draußen auf den Straßen Kölns, wo jetzt dünne Flocken vom Himmel rieselten.
Everard schenkte dem Wetter keine Beachtung. War es auch nur ein winziger Moment gewesen, den er in Anwesenheit der heiligen Reliquien hatte verbringen dürfen, so hatte dieser Augenblick trotzdem etwas in ihm verändert. Eine gewisse Ruhe hatte ihn erfasst und sich um ihn ausgebreitet wie ein wärmender Mantel.
Aus irgendeinem Grund hatte er es seit dem Erwachen gefühlt: Dieser Tag brachte die Wende, heute würde er endlich den Mut haben zu gehen. Seine Zweifel legte er ebenso ab wie das hochgesteckte Ziel, was man ihm auferlegt hatte. Hier war das Ende seiner Reise erreicht. Warum aber auch nicht? Viele Menschen pilgerten bis hierher und wieder zurück, nur um das zu sehen, was er soeben gesehen hatte. Und viele waren glücklich damit – auch ohne es bis nach Rom geschafft zu haben. Zwar konnte er ein Leben in Hamburg oder Plön jetzt getrost vergessen, denn die erforderliche Bußpilgerreise war hier noch nicht erfüllt, doch das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Sein Entschluss stand fest, er würde hier abbrechen und wieder nach Sandstedt reisen, von wo aus er vor über eineinhalb Jahren losgezogen war, um ein Leben in Hamburg bei seinem Ziehsohn Walther zu führen. Dieser Plan war zwar gescheitert, doch immerhin wartete in Sandstedt ein Dasein als einfacher Dorfpfarrer auf ihn. Er wollte sich nur noch verabschieden, dann würde er gehen. So lief Everard raschen Schrittes die Straßen entlang, mit dem Wissen, der Stadt noch am selben Tag den Rücken zu kehren, und erreichte kurze Zeit später Kunos und sein Versteck. Der junge Dieb lag noch immer schlafend in einer Ecke. Hätte man nicht deutlich das Senken und Heben seiner Brust gesehen, hätte man ihn genauso gut für tot halten können – so blass war er vor Kälte.
Der Geistliche kickte ihn leicht mit der Stiefelspitze. »He, Kuno. Wach auf!«
Er blinzelte zunächst, dann regte und streckte er sich. »Was ist los, Vater?«, fragte er schläfrig.
»Ich werde jetzt gehen.«
»Ihr wollt jetzt gehen?«, plapperte Kuno nach und rappelte sich umständlich auf, bis er auf seinen Füßen stand. »Wie kommt Ihr so plötzlich auf die Idee? Warum habt Ihr gestern nichts gesagt? Naja, egal, lasst mich nur schnell meine wenige Habe zusammenpacken, dann können wir …«
»Ich werde alleine gehen, Kuno.«
Der Dieb fuhr auf und blickte dem Geistlichen erstaunt ins Gesicht. »Was soll das
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