Das Vermächtnis des Rings
nicht seine. Seine eigene Rolle beschränkte sich aufs Bezahlen und Zuschauen und – vielleicht – auf einen kurzen Augenblick euphorischer Freude, auf jenen Moment unbeschreiblicher Erregung, den nur ein Jäger nachempfinden konnte, den Augenblick, in dem er den Finger um den Abzug krümmte und das Wild im Fadenkreuz des Zielfernrohrs sah. Vielleicht. Holm hatte ihm zu keinem Zeitpunkt garantiert, ihm das Wild wirklich vor die Büchse zu führen. Es war ein Versuch, zehntausend Dollar für eine Wahrscheinlichkeit von zehn Prozent, das Wild zu stellen, aber der mögliche Erfolg erschien ihm das Risiko wert. Überdies nahm ihn die Schönheit des Landes schon bald so gefangen, dass es sich gleich blieb, ob sie Erfolg hatten oder nicht. Jeder Meter des Waldes schien neue Wunder zu bergen, jeder Moment war anders, neu und faszinierend, ohne dass Raskell wirklich zu sagen vermochte, worin das Faszinierende bestand. Vielleicht lag es am Licht, an der klaren Luft hier oben, vielleicht wirklich an der Einzigartigkeit dieses unberührten Fleckchens Erde, vielleicht an seiner Stimmung. Vielleicht war es aber auch einer jener Tage, wie man sie nur ein- oder zweimal im Leben erlebt, Tage, an denen man plötzlich alles mit veränderten Augen sieht, an denen Vertrautes fremd, Altbekanntes neu und faszinierend wird, als sähe man einen altgewohnten Gegenstand aus einem völlig neuen Blickwinkel. Er konnte sich nicht sattsehen an so profanen Dingen wie Büschen und Bäumen, am Farbenspiel des Sonnenlichtes, den verwirrenden Mustern, die Licht und Schatten zwischen die Baumstämme woben, dem sanften Wiegen der Baumkronen.
Der Tag neigte sich dem Ende entgegen, als sie den Gipfel erreichten. Es gab eine Lichtung, ganz oben auf dem sanft gerundeten Kamm, einen lang gestreckten, schmalen Streifen baumlosen Geländes, der einen freien Blick ins Tal hinein gewährte.
Raskell hatte das Tal schon mehrmals gesehen – auf den Bildern, die ihn letztlich erst zum Herkommen bewegt hatten, später dann aus der Kanzel seiner Maschine, aber auch dieser Anblick erschien ihm neu und berauschend. Die Form einer lang gestreckten, flachen Schüssel, an drei Seiten von den grünbewaldeten Hängen der Berge und an der vierten von einer senkrecht aufstrebenden, zerschundenen Felswand begrenzt, der Boden mit einer dichten, wogenden grünen Decke ausgeschlagen, so dass er beinahe den Eindruck hatte, auf einen riesigen, still daliegenden See hinabzuschauen, dessen Wellen durch einen bizarren Zauber mitten in der Bewegung erstarrt waren.
Sie blieben stehen, Holm geduldig und schweigsam wie immer, Raskell so in fassungsloses Staunen versunken, dass er kaum spürte, wie die Zeit verrann, erst fünf, dann zehn Minuten, schließlich eine Viertelstunde, in der er nichts tat, als starr dazustehen und sich an der faszinierenden Schönheit unter sich satt zu sehen. Das Tal war mehr als ein besonders schönes Stück unberührter Natur. Es war ein Stück seiner selbst, Materie gewordener Traum, jener verlorene Zauberwald seiner Kindheit, zu dem er sich immer zurückgesehnt hatte, ohne ihn jemals zu finden.
Schließlich schrak er hoch und sah Holm mit einer Mischung aus Verlegenheit und Dankbarkeit an. »Rasten wir hier?«
Holm schüttelte wortlos den Kopf und deutete ins Tal hinab. Raskell nickte, griff automatisch nach seinem Fotoapparat und ließ die Hand auf halbem Wege wieder sinken. Irgendwie spürte er, dass es sinnlos wäre, hier zu fotografieren. Bilder konnten den Zauber des Augenblickes nicht einfangen. Er schulterte sein Gewehr neu und begann, hinter Holm den Hang hinunterzugehen. Der Wald wurde rasch wieder dichter, verfilzt und unwegsamer als zuvor, und ihr Tempo sank merklich. Raskell blickte ein paarmal auf das lange, scharf geschliffene Buschmesser, das gleich einem Degen von Holms Gürtel hing. Aber Holm verzichtete darauf, es zu benutzen, und schlängelte sich weiter durch das immer dichter werdende Unterholz, Lücken und Durchgänge erspähend, wo Raskell nichts als eine undurchdringliche grüne Mauer sah.
Es wurde dunkler. Die Sonne berührte den Horizont und tauchte die Berge in rote Schatten, und die Helligkeit des Tages wich hier, unter den Bäumen, in einer kurzen, vorweggenommenen Dämmerung bereits grauschwarzen Schatten und nächtlicher Stille.
Holm blieb plötzlich stehen und legte den Zeigefinger über die Lippen. Raskell verhielt ebenfalls mitten im Schritt und lauschte. Aber so sehr er sich anstrengte, konnte er nichts
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