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Das Vermächtnis des Rings

Das Vermächtnis des Rings

Titel: Das Vermächtnis des Rings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bauer
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vielleicht schon früher hier gewesen, bevor ich in das Heer des Schillernden eintrat? Hatte Enea sich geirrt, als sie vermutete, ich wäre tief im Süden, in der Wüste rekrutiert worden? Der Barde hielt nicht lange inne, sondern trug ein Lied vor, das ich noch nie gehört hatte:
     
    »Das Ziel vor Augen
    Zaudert der Wandrer.
    Doch der zweifelnde Blick auf Trautes zurück:
    Lullt er ihn ein
    Mit trugvollem Trost?
    Nebel ist das Gestern,
    Täuschung der alte Hafen;
    Wäre es dort wahrhaft heimelig,
    Warum schweiften wir fort?
    Nach Neurem und Bessrem streben wir.
    Deshalb zögert nur kurz der Fuß
    Und tut den nächsten Schritt,
    dem Ziel zugewandt.«
     
    Auf mich entfaltete das Lied eine eigenartige Wirkung: Mir schwindelte, mir war, als schwankte der Boden, auf dem ich stand. Ich schrieb mein Befinden dem Bier zu, das ich heruntergestürzt hatte und das vielleicht stärker gewesen war, als ich geglaubt hatte – außerdem war es gut möglich, dass ich geistige Getränke nicht mehr vertrug. Woher sollte ich wissen, welche Kost ich im Heer des Schillernden erhalten hatte? Dort machte man sich wohl kaum die Mühe, vor der Schlacht die Krieger mit Schnaps anzustacheln, wie es im Süden üblich ist; der Zauberbann des Schillernden war wirksamer, das wusste ich aus eigener Erfahrung besser, als mir lieb war.
    Als ich den Kopf schüttelte, ging das fremdartige Gefühl vorüber. Ich fröstelte trotz des Feuers.
    »Nun komm«, sprach man mich von hinten an. Ich drehte mich um und stand vor Arsyn von Gartham.
    Er führte mich in das Zelt, in dem ein schreckliches Durcheinander herrschte. Bücher und Schriftrollen türmten sich auf Stühlen und Tischen, zahlreiche große Kisten enthielten noch mehr davon. Alchimistische Gerätschaften und Tonkruken voll bunter und weißer Pulver standen auf einem Tisch. Es roch streng, süßlich und stechend zugleich. Auf irgendeine Weise, die ich nicht näher zu beschreiben weiß, wirkte das Innere des Zeltes wie eine Höhle oder ein Keller. Ein Mann, der uralt und zugleich höchst imposant wirkte, blickte uns entgegen. Das schlohweiße Haar fiel ihm bis auf die Schultern. Gekleidet war er in eine verwaschene, grüngraue Robe mit weiten Ärmeln, die einst wohl reich bestickt gewesen war, allein: Von den Mustern war nichts mehr zu erkennen. Er stützte sich auf einen langen Stab aus pechschwarzem Material, das weder Metall noch Holz zu sein schien. In seinen grauen Augen lag ein Glanz, vor dem ich mir unsäglich klein und unbedeutend vorkam wie noch nie im Leben.
    »Herr Canagan, das ist er, den du sprechen wolltest«, sagte Arsyn, und es erstaunte mich nicht, dass er dem alten Mann gegenüber die Anrede der Ehrerbietung wählte. »Vor dir steht Canagan, ein hoher Magier des Vereinten Heeres.«
    Ich verneigte mich tief und blieb mit gesenktem Haupt vor ihm stehen.
    »Setz dich auf einen Stuhl«, sagte der alte Zauberer mit knarrender, gleichwohl freundlich klingender Stimme, »wenn du einen findest. Schrecklich, dieses Durcheinander, nicht wahr? Ich muss dir einiges erklären, Fragen beantworten, die du dir wohl stellst.«
    Ich fand einen Stuhl, von dem ich nur zwei Schriftrollen und eine Tonschale voll getrockneter Wurzeln räumen musste, und ließ mich auf die Kante nieder.
    Canagan räusperte sich ausgiebig und setzte sich an seinen Arbeitstisch, ohne dass er den schwarzen Stab aus der Hand legte.
    »Du standest unter dem Bann des Schillernden. Wie kommst du zu deinem klaren Verstand?«
    »Das verdanke ich Enea, der Albin.« Ich berichtete, und als ich an die Stelle kam, wie ich mir Eneas Trunk auf die Lider strich, nickte er mehrmals heftig. »Das ist gut«, unterbrach er mich sinnend. »Ja, das ist gut.«
    »Wir versteckten uns, bis es dunkel war, und dann – «
    »Schon gut, schon gut, das ist ohne Bedeutung. Für mich wenigstens. Siehst du, wir nehmen häufig menschliche Soldaten des Schillernden gefangen, und wenn sie nicht in allzu desolatem Zustand sind, tragen wir ihnen mit Gewalt das Elixier auf, damit sie dem Bann entrinnen. Sonst müsste man sie monatelang einsperren, bis sie wieder sie selbst sind. Bei dir war es anders: Du bist nämlich aus freien Stücken wieder zu Verstand gekommen – du hast, wenngleich schwach, gespürt, dass etwas nicht Recht ist, hast die angebotene Rettung aus eigenem Willen entgegengenommen und erkannt, dass du Böses getan hast – und, was richtig ist, es bereut. Du hast den ersten Schritt zur Sühne und zur Läuterung aus freien Stücken getan.

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