Das Vermächtnis des Rings
Tropfen des Elixiers befand sich noch darin, und ich rieb ihn mir auf die Augen. Doch diesmal erfuhr ich keine Erleuchtung; die Welt schien mir genauso wie vorher. Nein, die Lösung lag nicht in magischen Tinkturen: Ich musste selbst entscheiden, ob ich eine Bürde auf mich nahm, von der ich nicht wusste, ob sie die meine war, wodurch ich aber Tausenden von Menschen neue Hoffnung geben konnte oder ob ich wieder ziellos in den Süden gehen und mich im Heer eines Stadtstaaten-Potentaten verdingen wollte. Nebel ist das Gestern, Täuschung der alte Hafen; wäre es dort wahrhaft heimelig, warum schweiften wir fort? Ich erinnerte mich nicht mehr, weshalb ich in den Norden gekommen war, aber etwas musste ich gesucht haben. Eine Bestimmung etwa, an die ich nicht glaube?, spottete ich. Doch im gleichen Augenblick lag die Antwort klar vor mir: Was ich glaubte, war ohne Bedeutung. Wichtig war allein, was andere in mir sahen – und wenn sie jemanden nötig hatten, der für sie der Geläuterte war, dann gab ich ihnen vielleicht den Ansporn, den sie brauchten, um das Unmögliche zu vollbringen. Wenn ich es nicht tat, gab es keinen, der es tun konnte, und warteten wir zu lange, war eine günstige Gelegenheit verschenkt und womöglich alles verloren.
Außerdem hatte ich noch eine Rechnung mit dem Schillernden zu begleichen, mit ihm und auch seinem Seelenstein, wenn es sein musste.
Nicht überzeugt, aber entschlossen machte ich mich auf den Rückweg zu Canagans Zelt.
Die Wächter wichen vor mir bereitwillig zur Seite. Ich räusperte mich. »Herr?«, fragte ich.
Eine krächzende Stimme antwortete einladend.
Ich zog die Zeltklappe beiseite und trat in die Zukunft.
R AINER S CHUMACHER
E S GIBT KEINE A BENTEUER
»Menschen«, erklärte Melanda im Brustton der Überzeugung. »Menschen sind dumm! Sie können sich ja kaum selbst ernähren. Ihr Futter kommt auf Karren. Ich habe noch nie einen von ihnen jagen sehen. Du etwa?« Sie warf ihrem aufmerksamen Zuhörer einen vielsagenden Blick zu. »Deshalb erleben sie auch keine Abenteuer. Sie erfinden sie. Sie reden von großen Helden, von starken, geschickten Männern, weil sie selber fett und träge sind.« Sie legte eine kurze Pause ein und leckte sich gelassen die Pfote, um die Spannung bei ihrem Zuhörer aufrecht zu erhalten.
Im Grunde genommen war das jedoch gar nicht nötig. Lutz war wie immer vollkommen fasziniert von Melandas Vortrag, obwohl er ihn schon tausendmal gehört hatte. Immer wieder blähte er die Nüstern und schlug anerkennend mit dem Schweif. Ja, Melanda war ein weises Tier! Sie hatte schon so manches erlebt und kam viel in der kleinen Stadt herum, während Lutz auf seiner Koppel stand und darauf wartete, dass Melanda ihn besuchen kam, um ihm die neusten Neuigkeiten zu berichten. Gemeinsam saßen sie dann beisammen, beobachteten eines der Stadttore, das von Lutz Koppel aus gut zu sehen war, und unterhielten sich – oder besser: Lutz hörte zu, und Melanda redete.
Für eine ausgewachsene Katze war Melanda ungewöhnlich klein, und sie besaß nur noch ein Auge. Wie und wo sie es verloren hatte, behielt sie für sich, was die Grundlage für unzählige Geschichten bildete, die unter den Tieren der Stadt kursierten. Dennoch war Melanda unglaublich geschickt und schnell. Schon manch ein Kater hatte unversehens Prügel bezogen und war mit eingekniffenem Schwanz davongestürmt, weil er die zierliche Katze unterschätzt hatte. Ihr schwarz-weißes Fell glänzte stets, denn sie putzte sich oft, und alle Menschen – egal ob klein oder groß – waren von ihrer eleganten Art begeistert. Sie lebte im Gasthof der Stadt, wo sie oft des Abends unter einem Tisch oder auf einem Dachbalken saß und die Menschen im Schankraum beobachtete. Zwar vermochte sie den seltsamen Lauten der unbeholfenen Zweibeiner keinen Sinn zu entlocken, doch untermalten sie ihre Geschichten stets mit solch ausschweifenden Gesten, dass selbst ein Tauber sie hätte verstehen können.
Ihrem Freund Lutz, dem Pony, ging es bei weitem nicht so gut. Sein braunes Fell glänzte nicht, und er war so dünn, dass man die Rippen zählen konnte. Er lebte auf der Koppel eines hageren, mürrischen Gesellen, der dem Pony nur selten etwas zu fressen gab und wenn, dann nur altes Heu. Während Melanda alle streicheln wollten, warf man Lutz nur mitleidige Blicke zu.
Melanda schnurrte leise. Sie mochte den zerzausten Kerl, und sie hoffte, dass man ihn eines Tages zu den anderen Ponys und Pferden in den
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