Das Vermächtnis des Rings
Heulen. Der Schwarze erstarrte. Die Vorderbeine hoch in der Luft, rührte er sich nicht mehr. Dann sprang er plötzlich auf den Hinterbeinen herum und galoppierte aus dem Stall hinaus.
Melanda war vollkommen verwirrt. Wer hatte da geheult? Das Heulen hatte weder menschlich noch tierisch geklungen, nur böse. Hatte es den Schwarzen verjagt, oder hatte es ihn gerufen?
Melanda wusste es nicht und würde es wohl auch nie erfahren; doch das war ihr in diesem Augenblick gleichgültig. Mühsam schleppte sie sich zwischen zwei Heuballen. Dort angekommen, untersuchte sie ihre Gliedmaßen und stellte erleichtert fest, dass nichts gebrochen war. Beim Aufprall auf die Wand hatte sie sich offenbar nur ein wenig den Kopf angestoßen. Gut. Jetzt musste sie sich erst einmal ausruhen. Morgen, ja, morgen…
Doch kaum hatte sie ihr Auge geschlossen, da stürmte der dicke Wirt in den Stall, gefolgt von seinen beiden Hausdienern. Mit ihren Laternen leuchteten sie in jede Box und schrien aufgeregt. Weitere Menschen kamen hinzu. Einige rannten sofort wieder aus dem Stall und liefen links und rechts die Straße hinunter. Es herrschte das reinste Chaos.
Aber Melanda brauchte Ruhe. Ruhe! Sie rappelte sich auf und trottete schwerfällig hinter den Heuballen entlang Richtung Tor. Sie würde bei Lutz übernachten. Ja, bei Lutz. Um Lutz kümmerte sich nie jemand. Da würde sie Ruhe haben.
Während sie durch die Straßen zu Lutz’ Koppel schlurfte, dachte sie kaum über das nach, was heute Nacht geschehen war. Sie wusste nur, dass sie irgendwie in ein Abenteuer geraten war, sich heldenhaft geschlagen und überlebt hatte. Abenteuer? Heldenhaft? – Wie auch immer, sie wollte nur noch schlafen.
Als sie Lutz’ Koppel erreichte, kroch sie unter der untersten Latte hindurch und stapfte zu Lutz’ Unterstand. Zu ihrer Überraschung war Lutz noch immer hellwach.
»Melanda! Gut, dass du kommst! Sie waren schon wieder hier!« Melanda kroch ins Stroh und rollte sich zusammen. »Diesmal sind sie aber raus… und wie! Der Torposten war wieder da. Beinahe hätten sie ihn über den Haufen geritten. Über den Haufen! Und dann die anderen Pferde. Ich muss dir unbedingt erzählen…« Aber Melanda schlief bereits.
Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Melanda am nächsten Morgen wieder erwachte. Sie streckte sich, gähnte und putzte sich ausgiebig. Das Leben war schön, die Sonne warm und das Stroh in Lutz’ Unterstand weich. Die Ereignisse der vergangenen Nacht waren in weite Ferne gerückt.
»Guten Morgen.«
Lutz beugte sich über sie. Er sah besorgt aus. »Geht es dir wieder besser?«, fragte er.
Und da fiel Melanda alles wieder ein. Nervös stand sie auf. Sie schüttelte sich, als wäre sie ins Wasser gefallen und schlug mit dem Schwanz. Dann setzte sie sich, hob eine Pfote und fuhr die Krallen aus. Getrocknetes Blut klebte darunter.
»Es geht mir gut«, antwortete sie und knabberte sich das Blut von den Krallen. »Danke.«
»Was ist eigentlich geschehen?«, erkundigte sich Lutz.
In sachlichem Tonfall berichtete Melanda Lutz von ihren gestrigen Erlebnissen. Sie ließ nichts aus. Zuerst erzählte sie ihm von dem Fremden, der allein durch die Stadt gewandert war, von den schwarzen Kerlen und wie sie plötzlich verschwunden waren und schließlich vom Kampf im Stall.
Lutz’ Augen wurden immer größer. Als Melanda das schwarze Pferd beschrieb, nickte er wissend, und als sie dann von dessen Absicht berichtete, die Ponys zu töten, erzitterte ihr Freund am ganzen Leib.
»Du kannst von Glück sagen, dass du mit dem Leben davon gekommen bist«, sagte er schließlich, nachdem Melanda ihren Bericht beendet hatte. »Diese Pferde sind wirklich wahre Monster. Ich habe sie gestern Nacht auch noch einmal gesehen, als sie mit ihren Reitern wie der Sturmwind zum Tor hinausgeprescht sind. Wäre der Wachposten nicht beiseite gesprungen, läge er heute vermutlich mit gebrochenen Knochen im Bett.«
»Dann sind sie also wirklich weg.« Melanda seufzte erleichtert auf.
»Ja«, bestätigte Lutz, »und die anderen Pferde und Ponys auch. Kurz nach den Reitern kamen sie aus einer der Seitengassen galoppiert. Welch eine abenteuerliche Nacht!«
Melanda blickte ihren Freund mit großen Augen an. Schon wieder dieses Wort: abenteuerlich. Es gab keine Abenteuer! Menschen waren zu dumm und Tiere zu klug, um sich gegenseitig…
Lutz schüttelte den Kopf. Er wusste, was seine Freundin dachte. »Melanda, du bist das weiseste Tier, das ich kenne; aber ich fürchte, in
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