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Das Vermächtnis des Rings

Das Vermächtnis des Rings

Titel: Das Vermächtnis des Rings Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stefan Bauer
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schien. Ich hatte Angst; eine kreatürliche Angst, die jeden befällt, der nicht weiß, ob er lebt oder tot ist. Ein Muskel zuckt. Eine Hand ballt sich zur Faust. Langsam, unendlich vorsichtig, richtete ich mich auf.
    Das Blut wich mir aus dem Kopf und ließ mich schwindeln; schwarze Flecken tanzten im Zwielicht vor meinen Augen, Schatten am Rande der Wahrnehmung, die mich umhüllten. Ich saß, die Füße fest auf den Boden gestützt, harter, kalter Stein unter mir, umgeben von den Wänden einer Höhle, und starrte hinaus auf eine Wand aus Eis.
    Es kam mir nicht einmal in den Sinn zu fragen, wie ich hierher gekommen war. Mein einziges Trachten war nur auf ein Ziel gerichtet: aufzustehen und hinauszugehen. Wohin? Ich wusste es nicht. Woher? Es kümmerte mich nicht. Wusste ich doch nicht einmal, wer ich war; ja, wie ich zu meinem Schrecken feststellte, ich kannte nicht einmal meinen Namen.
    Das Gesicht, das mir aus der Tiefe des Eises entgegenblickte, umgeben von hellem Haar, war mir fremd, doch es war jung; so viel konnte ich sehen. Ich streckte die Hände aus, berührte die kristallene Wand mit den Fingern. Sie war hart, unnachgiebig, doch ich konnte Bewegung dahinter erspüren, Wasser, das zwischen den Schichten rann, die sich wie die Ringe eines Baumes um mein steinernes Gefängnis gebildet hatten. Denn ein Gefangener war ich; das hatte ich begriffen.
    Panik erfasste mich. Ich schlug gegen das Eis, das mich gefangen hielt, hämmerte dagegen, bis meine Knöchel bluteten, stemmte mich gegen die blau schimmernde Wand mit aller Kraft, dass mein ganzer Körper sich spannte, bis die Sehnen vibrierten, die Knochen knackten, die Muskeln sich wölbten wie knotige Taue. Einer würde nachgeben, ich oder das Eis.
    Und das Eis brach.
    Ein Knirschen, ein Knistern, das von einem Punkt ausging und sich in alle Richtungen fortpflanzte, seitwärts und in die Tiefe hinein. Ein Hagel von Splittern umwehte mich, wie ein Schneegestöber, und dann war ich durch die gläserne Wand hindurch und stand, von Reif überpudert, im Freien.
    Ich befand mich auf einer hohen Ebene. Ringsum erhoben sich kahle Kuppen, deren Hänge von Heidekraut bedeckt waren. Üppig wucherte es zwischen den Steinen. Die Sonne stand hoch an einem klaren, wolkenlosen Himmel von metallener Bläue. Von weiter unten, wo das Land sich hinabsenkte, winkte das dunklere Blau von Wäldern zu mir empor. In der Ferne sah ich einen Rauchfaden aufsteigen. Und dahinter, am Horizont, konnte man das Meer erahnen.
    Es war kalt. Der Wind, der über die kahlen Höhen strich und zwischen den Steinen pfiff, trug noch die Kälte des späten Winters in seinem Atem. Meine Hände und Arme waren bedeckt mit winzigen Schnitten, die das Eis verursacht hatte, und der Rest von mir sah nicht viel besser aus. Das Blut begann bereits zu gerinnen. Es war kalt, und ich war nackt und allein.
    Ich warf einen Blick zurück in die Höhle, aus der ich gekommen war. Sie gähnte wie ein dunkler Schlund des Todes in einem Eisfeld, dem Rest des Schnees, der noch vom Winter geblieben war. Einen flüchtigen Augenblick erwog ich, zurückzugehen, mich zu verkriechen vor der erbarmungslosen Welt, in die ich hineingeworfen worden war. Doch der Gedanke verging so rasch, wie er gekommen war. Ich wusste, ich würde dort nichts finden, was mir helfen würde: weder Nahrung noch Kleidung. Ich könnte mich höchstens wie ein waidwundes Wild dorthin zurückziehen, um zu sterben. Doch ich wollte nicht sterben. Ich wollte leben.
    Schritt für Schritt machte ich mich an den langen, gefährlichen Abstieg. Was auch immer geschehen war, ließ sich nicht ungeschehen machen. Doch wenn ich überleben wollte, musste ich eine menschliche Siedlung erreichen, ehe ich an Unterkühlung und Hunger starb.
    Beim Gehen hielt ich mich zunächst an die großen Steine, versuchte von einem Felsblock zum nächsten zu gelangen, bis mir die Gefahr bewusst wurde, auszurutschen und mir den Knöchel zu verstauchen. Das Erdreich zwischen den Felsen war sicherer, doch dort warteten harte Wurzeln, dornige Ranken und spitze Kiesel auf mich. Bald hinterließ ich blutige Spuren, wo ich ging. Doch es kümmerte mich nicht.
    Irgendwann erreichte ich den Windschatten der ersten Bäume. Ich hatte mir instinktiv die Richtung gemerkt, in der ich die Rauchsäule gesehen hatte, und hielt darauf zu. Ob es nun eine menschliche Siedlung bezeichnen mochte oder nicht: Wo Rauch war, da war auch Feuer. Mein ganzes Bedürfnis war auf diese Werte beschränkt: Feuer, Wärme,

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