Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
du hast Kinder, und du führst ein erfolgreiches Geschäft. Du kannst dich bestimmt beschäftigen, bis ich wieder da bin.«
»Und was, wenn du, Gott behüte, nicht wiederkommst? Soll ich hier rumsitzen, während du irgendwo tot im Graben liegst, und für den Rest meines Lebens Strohwitwe sein?«
Reb Shalom geruhte dies nicht zu beantworten, sondern knotete entschlossen sein Bündel zu.
Shalom Shepher ging ein drittes Mal zum Rabbi. Der Rabbi aß Lokshnkuggl mit Rosinen.
»Ich werde mich bald auf die Reise zu den zehn verlorenen Stämmen machen«, sagte er. »Mir scheint, dafür brauche ich Empfehlungsschreiben.«
Der Rabbi pulte sich eine Rosine aus einem Zahnzwischenraum. »Das ist wahr«, sagte er. »Ich setze Euch ein Schreiben für eine sichere Reise auf.« Er wischte sich die Finger ab, nahm seinen Stift und zögerte. »An wen soll ich es denn richten?«, fragte er.
»Vielleicht schreibt Ihr am besten zwei Briefe«, sagte Shepher. »Einen offenen Brief und einen an den Anführer der Stämme.«
Der Rabbi stimmte zu, dass es so am vernünftigsten sei, und schrieb zwei Briefe. Einer lautete folgendermaßen:
Mit Gottes Hilfe, Die Heilige Stadt, 5. Kislev, 5626 Verehrte und geliebte Brüder, seit uns bewusst geworden ist, dass die Tage der Vernichtung bevorstehen und die Tage des Messias nahe sind, sind wir von der Sehnsucht
nach unseren Brüdern erfüllt, die der Herr in die entferntesten Winkel der Welt verstreut hat, und wir verspüren den starken Wunsch, ins Antlitz unserer Brüder zu schauen, wohin auch immer der Herr sie verstreut hat, bis zu der Zeit, wenn Er sie zurückführt, wie die Ströme des Negev und auf Adlerschwingen, in die Heilige Stadt Jerusalem. Und so hat unser geliebter Bruder Reb Shalom aus Skidel es auf sich genommen, diese gefahrenvolle Reise anzutreten, um unsere verlorenen Brüder zu suchen, mit ihnen um die Herrlichkeit Zions zu trauern, die vergangen ist, und über den Messias zu jubeln, der kommen wird. Er ist ein Jude von gutem Charakter, ein Gelehrter der Torah, der die Gebote beachtet, der nach Frieden strebt und den Frieden liebt, ein Mann von Weisheit und hoher Bildung. Möge er Gnade finden vor Euren Augen, auf dass Ihr ihn in Eurem Königreich willkommen heißt, ihm Unterkunft gebt in Euren Häusern und Eurem Bruder in jeder Hinsicht Güte gewährt, wie es einem Juden geziemt. Und möge der Erlöser nach Zion kommen und Jerusalem noch in unseren Tagen schnell wieder aufgebaut werden. Amen.
Reb Shalom steckte die beiden Briefe in seinen Kaftan.
Am siebten Tag des Monats Kislev machten er und der Muker sich noch vor Anbruch der Morgendämmerung durch das Damaskustor auf den Weg und folgten der Karawanenstrecke nach Nablus. In seinem Bündel trug mein Urgroßvater einen Beutel getrockneter Feigen, einen Topf Gurken und eine Rolle syrischen Tabak von schlechter Qualität, den er mit einem Karottenstreifen feucht hielt. Einige alte Männer und Kinder folgten ihnen aus der Stadt. Der Rabbi segnete die Reise mit den Worten: »Ich habe euch auf Adlersflügeln
getragen und zu mir gebracht.« Dann schauten sie den beiden Maultieren nach, die sich langsam den Weg hinauf ins Kidrontal bewegten.
Auf dem Gipfel des Skopus drehte Shalom Shepher sich um und warf einen letzten Blick auf die Heilige Stadt. Dann richtete er die Augen gen Osten. Und erst zwei Jahre später betrat er Jerusalem durch das Stephanstor wieder.
Vierzehntes Kapitel
Schweigen auf dem Dachboden. Nur das kurze Rascheln von Papier beim Umblättern, das langsame Knarren von zersplittertem Holz. Wir saßen dort, ohne zu sprechen, Onkel Saul und ich, und atmeten den Staub unserer Vorfahren ein. Die Wärme ungezählter Sommer umfing unsere Haut. Unter diesem Dach schwebte die Seele des Hauses. Ich sah, dass meine Hände schon ganz schwarz davon waren.
Noch drei Tage zuvor war ich in England gewesen und hatte ein Leben geführt, das mir einfach und unkompliziert erschienen war, das aber, wie ich plötzlich sehr deutlich sah, nichts als eine dünne Eisschicht über einem tiefen Abgrund war. Ich habe mein Leben in einen engen Käfig gezwängt, die Rituale der Jugend durch zwanghafte Routine ersetzt. Jeden Tag ging ich aus meinem sauberen, kleinen Heim und stieg in mein makelloses Auto. Meine Unterlagen hatte ich in einer adretten Aktentasche. Für meine Studenten war ich die muntere alte Jungfer Dr. Shepher, die sie hinter vorgehaltener Hand belächelten, wenn sie über Textvarianten ins Schwärmen geriet; die ein
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