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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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oder über bestimmte Pergamente gebeugt in einer Ecke des Wohnzimmers, in seine Arbeit vertieft, und bemerkte all die Fragen und Aufforderungen gar nicht. Man sah ihn oft, wie er die Seiten eines heiligen Texts umblätterte und in Hieroglyphen eine Berechnung notierte.
    Batsheva führte derweil das Geschäft mit Eingelegtem fort, das die Familie ernährte, und Isaak Raphaelovitch kämpfte weiter darum, ein Gelehrter zu werden, bis er eines Tages eine eingelegte Gurke aß, die noch nicht ganz fertig war, und sich eine Lebensmittelvergiftung zuzog. Der Arzt ließ ihn becherweise zur Ader und führte mit Salz ab, und am dritten Tag starb Raphaelovitch. Batsheva räumte alle Destillierapparate und Einmachkrüge aus dem Haus, verkaufte die gesamte Ausrüstung an einen Händler und stieg stattdessen ins Mehlgeschäft ein. Sie legte in ihrem ganzen Leben keine Gurke mehr ein und nahm das Geheimnis ihres Rezepts mit ins Grab.
    Viele in Jerusalem klagten, als das Essiggeschäft im Haus mit der Hand in der Chabad-Straße schloss.
    Mein Urgroßvater verließ Jerusalem danach nicht mehr. Erschöpft von seinem großen Abenteuer, blieb er der Heiligen Stadt treu. Im Laufe der Jahre ließ seine Sehkraft nach, aber er behielt seinen Spitznamen »Adlerauge«. Er saß in der Ecke des Lehrhauses, wo die Kinder, die erwachsen geworden
und inzwischen selbst Eltern waren, ihn ihren Kindern vorstellten als »Shalom Shepher, der zu den zehn verlorenen Stämmen gereist ist«. Es war schwer zu glauben, nachdem er die Stadt vierzig Jahre lang nicht verlassen hatte. Manchmal sah man ihn sehr langsam die Jaffa-Straße entlanggehen.
    Und wenn die jungen Männer, die einmal Kinder gewesen waren, ihn fragten: »Wie lange noch, Reb Shalom?«, antwortete er stets: »Noch nicht.« Und wenn die alten Männer, die mit ihm alt geworden waren, fragten: »Wie lange noch?«, antwortete er: »Nicht in unserer Generation.« Seine Haut bekam den Glanz von gelbem Pergament, seine Stimme war wie das Zittern eines Spinnennetzes, seine Erscheinung die einer abgenutzten Torahrolle. Er saß in seiner Ecke und arbeitete an seinen Berechnungen zum Datum des Endes der Welt.
    Es heißt, er sei seinem Ziel sehr nahe gekommen. Wenige Tage vor seinem Tod sei er kurz davor gewesen, es zu entdecken. Vielleicht hatte er es sogar geschafft, und das Datum war irgendwo in seinen Papieren verborgen.
    Wir werden es nie erfahren. Nach seinem Tod wanderten seine kleinen Zettel in eine Kiste. Die Kiste ging in den Besitz meines Großvaters über, der sie auf den Dachboden des Hauses in Kiriat Shoshan brachte. Dort blieb sie siebzig Jahre lang, bis wir hinaufgingen und sie öffneten. Und weil wir nicht in die Geheimnisse der Numerologie eingeweiht waren und nicht verstanden, was die Zahlen bedeuteten, warfen wir Reb Shaloms Berechnungen auf einen Haufen, und sie wurden verbrannt, zusammen mit dem ganzen Haus.

Zweiter Teil:
    Kiriat Shoshan

Erstes Kapitel
     
    Moses empfing die Torah am Sinai und übergab sie Josua, Josua den Ältesten, die Ältesten den Propheten, und die Propheten übergaben sie den Männern der großen Versammlung.
    Er schrieb die Fünf Bücher nach Diktat, oben auf dem Berg, in vierzig Tagen und vierzig Nächten. Wie Shakespeare strich er nie eine Zeile aus. Er schrieb »Im Anfang«. Er schrieb über die Flut und was danach kam. Er hielt in allen Einzelheiten fest, wie er vierzig Tage und Nächte auf dem Berg saß und schrieb. Und als Gott ihm die Geschichte seines Todes diktierte, schrieb er sie unter Tränen nieder.
    »Und übergab sie Josua, Josua den Ältesten, die Ältesten den Propheten.« So begann ein kompliziertes hebräisches Stille-Post-Spiel. Es wurden Kopien angefertigt und Kopien der Kopien. Versionen, die aus der Erinnerung geschrieben wurden und Versionen, in denen sich jemand verhört hatte. Fehler schlichen sich ein. Die Diskrepanzen wurden immer größer. Und schließlich müssen wir uns vorstellen, wie unsere religiösen Führer den Texten über die Hügel des Gelobten Landes nachliefen wie einem Schwarm Schmetterlinge, von denen jeder behauptete, mehr oder minder das Wort Gottes zu sein.
    Vielleicht war auch alles ganz anders. Vielleicht war es überhaupt nicht so. Sondern ein Strang von Geschichten wurde, glänzenden Perlen gleich, an den Lagerfeuern der alten Hebräer herumgereicht. Die Geschichten wanderten von
Mund zu Mund und von Lager zu Lager, wurden verändert und abgewandelt. Schließlich wurden sie niedergeschrieben, und aus einem

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