Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Wust von Überlieferungen entstand ein zusammenhängender Text: dieser große Korpus von Legenden, Historien und Gesetzen, den wir den Pentateuch nennen.
Wie ließ das Wort Gottes sich schützen? Auf dem Tempelgelände wurde ein Original aufbewahrt, mit dem alle Kopien verglichen werden mussten. Aber dieses Original war ebenfalls die Kopie einer Kopie einer Kopie. Tatsächlich gab es im Tempel drei Fassungen der Torah, die widersprüchliche Lesarten enthielten: den Meon-Kodex, den Zaatutay-Kodex und den Hi-Kodex, die nach ihren eklatantesten Unterschieden benannt waren. Dann gab es noch den Severus-Kodex, der im Jahr 70 von Vespasian aus dem Tempel geholt und in die Severus-Synagoge in Rom gebracht wurde. Sowohl der Kodex als auch die Synagoge sind längst verschwunden, aber in der Nationalbibliothek in Paris existiert noch eine Liste von zweiunddreißig Abweichungen, darunter Genesis 1, 31: »Und siehe, der Tod war sehr gut.«
Schließlich waren es die Masoreten, die gelehrten, pedantischen Familien von Ben Naftali und Ben Asher, die am Ufer des Sees Genezareth im Wind saßen, der durch die Dattelpalmen strich, und den Text der hebräischen Bibel abglichen und analysierten, prüften und bereinigten. Und selbst sie brachten keine maßgebliche Version hervor; die Ben-Asher-Fassung galt noch etwas mehr als die von Ben Naftali.
Sie tilgten die Abweichungen nicht. Stattdessen nahmen sie die gängigste Lesart und notierten die Varianten am Rand. Offensichtliche Fehler korrigierten sie nicht. Auch die Fehler waren heilig, vom Munde Gottes diktiert. Gott selbst, hieß es, hatte Art und Anzahl dieser scheinbaren Fehler benannt.
Ihre Arbeit war von höchster Pedanterie, und so musste es auch sein. Denn die Torah besteht nicht nur aus Wörtern, sondern ist ein mathematischer Text: ein komplizierter Code, in dem alle Geheimnisse des Universums verzeichnet sind. Akrostichen und Beschwörungen, Rätsel und Prophezeiungen. Auch meine Vorfahren haben sich, der Kritik der bodenständigeren Rabbiner zum Trotz, in Berechnungen und Numerologie vergraben und die Passagen durchforstet, die das Datum der Ankunft des Messias vorhersagten. Und so warnten die Weisen nicht ohne Grund: Wer einen einzigen Buchstaben verändert, zerstört die Welt.
Der älteste noch erhaltene masoretische Text ist der Kodex Leningradensis von 916, ein Werk von außerordentlicher Gelehrtheit und eine Arbeit der Liebe. Aber die perfekteste Version soll das krönende Werk der Familie Ben Asher gewesen sein, die im Jahr 900 vollendet, in Jerusalem aufbewahrt und von dort aus von den Seldschuken nach Kairo und von Kairo in die Synagoge von Aleppo gebracht wurde, wo sie jahrhundertelang vor neugierigen Blicken geschützt war, bis die Synagoge 1947 niedergebrannt wurde und der Kodex bis auf ein paar Fragmente für immer verloren war.
Es gibt keine Aufzeichnungen über die anderen Pentateuche, die einst im Antlitz der Wüste blühten wie so viele Frühlingsblumen und dann vergingen: die Untergrundtexte, die nicht anerkannten, die lokalen, die häretischen und die sektiererischen. Die ein Gott, der vielleicht anders sprach, einem Moses diktierte, der andere Worte aufzeichnete, und die den Menschen, die sie vernahmen, dennoch als Wort Gottes galten. Sie wurden ausgesiebt wie heilige Spreu, und übrig ist nur das schwere Korn der offiziellen Version. Die eine oder andere mag überlebt haben, unter die Hemden der Seeleute Salomos gepresst, als sie an fremden Gestaden Schiffbruch erlitten, oder später von Exilanten umklammert,
die von den Assyrern verschleppt wurden: bei den zehn verlorenen Stämmen Israels, die hinter den Euphrat gespült wurden und für immer verschwanden.
Und wenn es solche Texte wirklich gab, wurden vielleicht auch sie kopiert und weitergereicht, von einer Generation der nächsten in die Feder diktiert, in den isolierten Gemeinden im Kaukasus und in abgelegenen Regionen Afrikas, in die es die legendären Stämme verschlagen haben soll. So dass eines Tages ein Reisender kommen und eine Torah entdecken könnte, die anders wäre als die, die er kennt, und sie heimlich nach Jerusalem bringen …
In der Zwischenzeit setzte der Prozess sich fort und gewann an Geschwindigkeit. 1525 wurde die Bomberg-Bibel veröffentlicht, die erste gedruckte Ausgabe der hebräischen Schrift, und war fortan automatisch die maßgebliche Version. Die Gelehrten nahmen sie als Grundlage für ihre Forschung, und die Schreiber bezogen sich auf sie, wenn sie Schriftrollen
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