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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tamar Yellin
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schrieben. Hundertdreißig Jahre später hob Baruch Spinoza die Nase aus dem Text und bestritt, dass Moses die Torah geschrieben habe. Es gebe Ungereimtheiten, sagte er, und Widersprüche. Einmal dauere die Flut vierzig Tage, an einer anderen Stelle einhundertfünfzig. In einem Bericht schicke Noah eine Taube aus, in einem anderen einen Raben. So sei es, sagten die Rabbiner, und so solle es immer sein. Denn niemand dürfe die heilige Offenbarung verändern. Und sie exkommunizierten ihn.
    Im neunzehnten Jahrhundert wandten Gelehrte, die selbst gläubige Männer waren, wissenschaftliche Methoden an und unternahmen tapfere Vorstöße in den Dschungel der Bibelexegese und der Philologie, der Varianten, der Wiederholungen und Auslassungen und füllten diese dunkelgrünen Bände - liest die heute noch jemand? - des International Critical Commentary , in dem die Psalmen auf ein Puzzle aus gestohlenen
Sätzen und die Geschichten auf nichts als Floskeln reduziert wurden und fast alles eine Anmerkung, ein Fehler oder ein nachträglich hinzugefügter Einschub war. Sie wurden Meister darin, Bibelverse zu zerpflücken, bis das, was einfach erschienen war, kompliziert wurde, und was kompliziert erschienen war, zu einem unauflöslichen Wirrwarr, aber ihr Glaube hielt all dem stand, denn sie sahen Gott als Schriftsetzer von unerhörtem Verstand, der die Textmassen zu seiner Verfügung zusammenhielt, ebenso wie er am Tag des Jüngsten Gerichts die Fäden der chaotischen Geschichte zusammenziehen würde. Und die Rabbiner selbst glauben, dass am Ende aller Tage Elia zurückkehren und alle textlichen Probleme lösen würde.
    Die Torah existiert seit neunhundertsiebenundvierzig Generationen vor der Erschaffung der Welt. Und als Gott die Welt erschuf (die nicht seine erste war: Er hatte bereits sieben oder mehr Welten geschaffen und verworfen), benutzte er die Torah als Anleitung und Blaupause. Für eine unvollkommene und kryptische Welt ist eine unvollkommene und kryptische Torah die perfekte Blaupause.
    Dies wiederum erinnert an eine andere Legende: Vor der Schöpfung war die Torah ein bloßer Haufen Buchstaben, die in jeder beliebigen Reihenfolge hätten angeordnet werden können. Als Adam sündigte, erhoben sie sich und setzten sich in der Reihenfolge zusammen, die wir heute kennen. Wenn der Messias kommt, werden sie sich wieder aufribbeln wie Strickware und eine neue Torah bilden, einen neuen Himmel und eine neue Erde.

Zweites Kapitel
     
    Manchmal kommt mir meine Familiengeschichte genauso vor: wie eine Masse ineinander verschmolzener Texte und widersprüchlicher Überlieferungen. Ein schwer verständliches Dokument voller Löcher. Eine wacklige Erzählung, vollgestopft mit Belanglosigkeiten und Wiederholungen, zusammengehalten von Hörensagen und Anekdoten und vielleicht Lügen.
    Und deswegen habe ich das Gefühl, dass ich, wenn ich dies hier die Geschichte des Hauses Shepher nenne, den Titel noch genauer wählen sollte: Eigentlich müsste es nicht einfach die Geschichte, sondern die sagenhafte Geschichte heißen.
    Über Generationen hinweg waren die Mitglieder meiner Familie Schreiber und Korrektoren von Schriftrollen. Sie verbrachten ihre Tage über Schreibtische gebeugt, studierten die Buchstaben der Heiligen Schrift oder schrieben sie sorgfältig mit einer Rohrfeder. Sie arbeiteten gründlich, pingelig und mit scharfem Blick. Akribisch und perfektionistisch. So mussten sie sein. Die Integrität der Torah hing von ihrer Arbeit ab. Wenn sie einen Buchstaben veränderten, zerstörten sie die Welt.
    Es ist schwer zu sagen, warum sie so waren. Ob sie Pedanten waren, weil sie Schreiber waren, oder Schreiber, weil sie Pedanten waren. Vielleicht war es von beidem ein bisschen. Und so haben wir bis heute unsere säkularen Pedanten, unsere häretischen Perfektionisten.
    Woher stammen wir? Wenn wir die Bibel als Quelle nehmen, sind wir die Kinder von Adam und Eva, die wegen ihres kreativen Denkens aus dem Paradies vertrieben wurden und die den späteren Shephers verblüffend ähneln, was
Diebstahl, häusliche Zwietracht, gegenseitige Schuldzuweisungen und Pech betrifft.
    Woher stammen wir wirklich? Den Archäologen zufolge sind wir die Nachkommen kriegerischer Stämme, die dem Ägyptischen Reich im dritten Jahrtausend vor Christus das Leben schwer machten. Eine Horde marodierender Räuber, Rebellen, Söldner, Nomaden und manchmal Bauern, die überall im alten Orient für Ärger sorgten. Es heißt außerdem, als die Israeliten aus

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