Das Vermächtnis des Templers
Muskeln in Beinen und Armen, spürte, dass die Sehnen bis aufs Äußerte gespannt waren, die Haut an den Fingern mehr und mehr einriss, fühlte den Schweiß an sich herablaufen.
Er blickte hinauf, um sich zu vergewissern, dass er seinem Ziel näher gekommen war. Und genauso blickte er hinab. Es überraschte ihn, dass er etwa die Hälfte der Höhe hinter sich gebracht hatte. Ein Gefühl von Stolz kam in ihm auf. Doch der Blick nach unten verdeutlichte ihm auch, dass es jetzt kein Zurück mehr gab, dass ein Sturz aus dieser Höhe tödlich sein musste. Schlagartig verlor er all seine Selbstsicherheit. Gleichzeitig rutschte er mit der rechten Hand ab, griff blitzartig nach, noch einmal, bis er glücklich neuen Halt fand.
Johannes fühlte, wie Blut den Arm hinablief. Er war nun unfähig, sich zu bewegen. Jede Sehne, jeder Muskel, jeder Finger schmerzte ihn. Er ertappte sich dabei, über das nachzudenken, was geschehen würde, wenn er sich jetzt nicht mehr halten konnte. Ein Schwindelgefühl erfasste ihn, und erst im letzten Moment gelang es ihm, dagegen anzukämpfen.
Plötzlich war es wieder da, das gedankenlose Zugreifen, Hand um Hand. Plötzlich bewegten sich die Zehen erneut, so, als wären sie es, die den Weg kannten. Nun war nur noch Hand und Stein und Fuß und Stein. Da war kein Schmerz mehr, kein Nachsinnen, nur eine beständige, ungebrochene Aufmerksamkeit …
Als Johannes wieder zu sich kam, dauerte es einige Zeit, bis er sich bewusst wurde, was geschehen war. Nachdem er den letzten Felsvorsprung hinter sich gelassen und ebene Erde erreicht hatte, war ihm längst jegliches Schmerzgefühl verloren gegangen. Es war ihm nicht möglich gewesen, Erleichterung oder Freude zu empfinden. Das Abfallen der Anspannung hatte ihn offenbar in Ohnmacht fallen lassen.
Nun meinte er, Schmerzen in allen Muskeln zu spüren, vor allem aber in den Fingern, die er sich an den Steinen aufgerissen hatte. Er blickte sich um und bemerkte den Mann, der neben ihm saß und ihn freundlich anblickte.
«Wach auf, Johannes. Du hast lange geschlafen.» Johannes rappelte sich auf und kam über die Seite zum
Sitzen.
«Du hast deine erste Prüfung bestanden.»
Johannes blickte auf.
«Prüfung?», fragte er verwirrt.
«Ich habe die Aufgabe, dich zum Krieger auszubilden», sagte
der Mann. Er hatte vor sich ein Tuch ausgebreitet und Weizenbrot und Käse darauf gelegt.
«Nimm dir etwas zu essen. Das gibt dir wieder Kraft.»
Johannes griff dankbar nach dem Brot und nahm einen großen Schluck aus der Wasserflasche. Die Ängste, die er ausgestanden hatte, kamen ihm wieder in Erinnerung.
«Warum habt Ihr mich so in Gefahr gebracht?», fragte er barsch.
«Ich verstehe, dass du mir jetzt Vorwürfe machst. Aber das ist ein Teil deiner Ausbildung.»
«Ich hätte tot sein können!»
«Nein», antwortete der Mann kurz.
«Nein? Es hätte mich erschlagen, wenn ich abgestürzt wäre.»
«Du wärst nicht abgestürzt», war erneut die kurze Antwort. «Du besitzt einen großen Willen und die Fähigkeit, dich ganz auf diese Herausforderung einzulassen. Das ist die Kunst des Kriegers.»
«Ich bin ein Mönch! Kein Krieger!»
Johannes erinnerte sich an Jordanus. Auch er hatte davon gesprochen, ein Krieger zu sein. Er hatte kein Schwert getragen.
«Es geht nicht darum, dass du in den Krieg ziehst», fuhr der Mann fort. «Es geht darum, dass du dein Leben in vollem Bewusstsein lebst. Das ist die Haltung des Kriegers. Du nimmst die Welt ernst.»
Johannes sah ihn fragend an.
«Diese erste Lektion habe nicht ich dir erteilt, sondern der Tod. Du wirst ihn achten lernen.»
«Warum sollte ich ihn achten?»
«Weil er zu dem Wenigen gehört, was gewiss ist. Es kommt darauf an, was der Tod für dich ist. Du wirst ihn nicht besiegen können, aber du kannst ihn nutzen, um Kraft aus ihm zu ziehen, immer wenn du in Gefahr bist, oder auch dann, wenn du dich selbst überwinden musst. Niemand kann sicher sein, dass der Tod ihn nicht im nächsten Moment ereilt. Aber alle leben so, als würde es ihn nicht geben.»
Johannes blickte zu Boden.
«Ist es dann nötig, sich in Gefahr zu begeben?»
«Manchmal wohl. Als du die Wand erklettert hast, sind dir Zweifel gekommen. Kann ein Mensch solch eine Wand erklettern? Du bist in Angst verfallen, als du wahrgenommen hast, dass der Sturz von der Felswand tödlich sein würde. Aber diese Angst hat dir nichts anhaben können. Der Tod hat dich gelehrt weiterzuklettern. Du wurdest selbst zum Fels und hast deine Zweifel überwunden. Der Krieger
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