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Das Vermaechtnis des Will Wolfkin

Das Vermaechtnis des Will Wolfkin

Titel: Das Vermaechtnis des Will Wolfkin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steven Knight
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zweiten Woche mussten wir üben, gegenseitig unsere Gedanken zu erspüren, doch nun ohne die Hilfe der Blumen. Emma sah mir fest in die Augen und dachte an einen Gegenstand, den ich dann erraten musste. Ich merkte, dass mir das bei Emma nicht schwerfiel, und auch sie hatte keine Probleme bei mir. Durch Emmas fantasievolle Gedanken zu wandern war immer aufregend und abenteuerlich. Jedes Mal dachte sie an fremdartige afrikanische Tiere, an Vögel und Spinnen, deren Namen ich nicht kannte und die ich deshalb nur beschreiben konnte. Ich dagegen dachte meistens nur an Dinge aus dem Kloster, zum Beispiel an Schüsseln, Tassen und Türgriffe, oder auch an die Gesichter bestimmter Nonnen. Ich glaube, Emma langweilte sich in meinen Gedanken, aber sie zeigte es nicht.
    Anschließend sollten wir lernen, von Bäumen und Büschen Informationen über unsere Feinde zu erhalten. Earl Hawkin sagte, wenn Menschen oder Fel durch den Wald gingen oder sich am Lagerfeuer unterhielten, könnten die Pflanzen um sie herum ihre Worte verstehen. Ein Fel mit geschulten Ohren könne Bäume und Büsche dazu bringen, ihr geheimes Wissen preiszugeben.
    Earl Hawkin ging voraus und redete allen möglichen Unsinn vor sich hin. Unsere Aufgabe war es, ihm in einiger Entfernung zu folgen und zu versuchen, die Worte, die er zwischen Blättern und Zweigen zurückgelassen hatte, zu verstehen.
    Während wir uns immer ein Stück hinter ihm hielten und im Gehen mit den Händen über die Blätter strichen, lernten wir allmählich, aus scheinbar vom Wind herangetragenen einzelnen Wörtern ganze Sätze zu kombinieren. Dieses Spiel konnte ich gut, es erinnerte mich an meine Zeit im Rollstuhl, als ich »las«, was Shipley mir in die Hand geleckt hatte.
    Earl Hawkin sagte manchmal alberne kleine Kinderreime auf und manchmal gab er tiefe Weisheiten von sich, je nach seiner Stimmung.
    Der erste Satz, den wir vollständig zusammenbasteln konnten, lautete: »Der Mond ist das Fett, das das Rad schmiert, durch das der Griff rotiert, der die Welt in der Bahn hält und jeden auf seinen Platz stellt.« Als wir allmählich besser wurden, teilte er uns nützliche Informationen mit, die wir dem Rascheln der Blätter entnehmen konnten.
    »Graue und weiße Pilze kann man essen, purpurrote Blumen aber sind giftig.«
    »Macht ihr Pfeilspitzen bei Mondlicht, zielen sie besonders präzise, macht ihr sie bei Sonnenlicht, fliegen sie besonders kraftvoll.«
    Als würden wir Geografie oder Chemie in einer gewöhnlichen Schule lernen, so testete uns Earl Hawkin nach jedem Waldgang, ob wir seine Botschaften verstanden hatten.
    Dieses Spiel machte genauso viel Spaß wie die anderen – bis zu einem bestimmten Vormittag. An diesem Tag sollten Emma und ich getrennt durch den Wald gehen, damit Earl Hawkin feststellen konnte, ob jeder von uns die Botschaften aus den Blättern auch allein »hören« konnte.
    Wir gingen zu dritt hintereinander in einem großen Kreis durch den Wald, Earl Hawkin voran. Emma folgte ihm in gewissem Abstand, versuchte zu verstehen, was Earl Hawkin gesagt hatte, und wiederholte es laut. Ich ging ebenfalls in gewissem Abstand hinter Emma her und musste verstehen, was sie gesagt hatte. Weil wir aber im Kreis gingen, kam kurz hinter mir Earl Hawkin und lauschte, ob die Worte, die ich verstanden hatte, dieselben waren wie seine Worte vom Anfang. Es war so ähnlich wie »Stille Post«, und Earl Hawkin sagte, es sei immer witzig, wie die Nachrichten beim Weitergeben im Kreis verändert wurden.
    Earl Hawkin war weit voraus. Emma konnte ich so eben noch vor mir auf dem Weg sehen. Ich hörte die Worte eines uralten Liedes über die Fahrt der Fel nach Island, das Earl Hawkin gerade sang und Emma wiederholte. Plötzlich endete das Singen.
    Ganz deutlich hörte ich: »Ich werde dich verraten.« Es kam von links, von einem Felsbrocken hinter einer großen dunklen Eiche. Die Stimme klang wie Emmas Stimme.
    Ein Schauer durchfuhr mich und, ohne nachzudenken, rief ich: »Warte!« Emma konnte inzwischen auch aus der Entfernung problemlos meine Gedanken erspüren, und so wusste sie sofort, dass etwas nicht stimmte.
    »Was ist, Toby?«, fragte sie.
    Ich schaute ihr in die Augen. Sie las meine Gedanken und ich fand, ich dürfe gar nicht erst versuchen, etwas vor ihr zu verbergen.
    »Ich habe eine Stimme von dem großen Felsen dort gehört«, sagte ich. »Er hat etwas von Verrat gesagt. Ich habe verstanden: Ich werde dich verraten.«
    » Wer wird dich verraten?«, fragte Emma.
    Ihre Augen

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