Das Vermaechtnis des Will Wolfkin
in eine verkümmerte Eiche. Als ich aufsah, saß Earl Hawkin mit den Händen auf den Knien da und lachte.
»Ihr müsst lernen zu spüren , wenn ein Pfeil auf euch gerichtet ist«, sagte er. »So wie ihr auch lernen müsst, die Kränkung im Herzen eines andern zu spüren, auch Wut oder Verrat, selbst wenn ihr nicht damit rechnet.«
»Das war ein idiotischer Trick«, brummte ich, stand auf und half Emma auf die Beine.
»Wir hätten tot sein können!«
»Emma hat gespürt, dass der erste Pfeil unterwegs war«, sagte Earl Hawkin. »Zwei Punkte für sie. Du, Toby, hast gespürt, wohin der zweite fliegen würde, zwei Punkte für dich. Aber kommt, jetzt wollen wir Blumen pflücken.«
Damit ging Earl Hawkin auf einen Hang zu, der ein Stück hinter den Ställen sanft anstieg. Meine Hose und meine Ärmel waren dreckig und Emma zog Grashalme aus ihren Haaren. Wir sahen einander kurz an.
»Komische Schule ist das«, sagte sie, drehte sich um und folgte Earl Hawkin durch den Morast.
Jenseits des Höhenrückens war ein kleines Wäldchen, in dem unzählige Blumen wuchsen. Sie waren rot und sahen aus wie deprimierte kleine Fußballer mit gesenkten Köpfen. Wir sollten nun jeder eine Blume pflücken, sagte Earl Hawkin, und dann unabhängig voneinander irgendwohin gehen, wo wir der Blume unsere ganze Lebensgeschichte erzählen sollten. Wir müssten ihr alles erzählen, was es über uns zu sagen gebe, Dinge, die wir nicht einmal unserem besten Freund erzählen würden. Hinterher würde er, Earl Hawkin, unsere Blumen im Wald verstecken. Meine Aufgabe würde es dann sein, Emmas Blume zu finden und zu versuchen, ihre Geheimnisse zu »verstehen«. Emma sollte es mit meiner Blume ebenso machen.
Es hörte sich verrückt an, schien aber wenigstens eine angenehme Art, den Nachmittag zu verbringen.
Ich pflückte eine Blume und ging damit an eine Stelle, wo gerade ein Sonnenstrahl durch die Eisdecke und die Baumwipfel fiel und eine warme Insel aus feuchtem Gras bildete. Zuerst war es mir peinlich, mit einer Blume zu sprechen, und nachdem ich meinen Namen gesagt hatte, gab ich es auf. Dann fand ich, ich könnte ja immerhin die Sache mit den Nonnen erzählen, die mich nach einer Katze genannt hatten, und daraufhin kam mir die ganze Geschichte über die Lippen. Schwer fiel es mir dagegen, über Schwester Mary zu reden. Ich musste immer wieder schlucken, doch am Ende konnte ich sogar lang und breit von meiner Mutter sprechen, die ich nie kennengelernt habe.
Schon bald erzählte ich der Blume Dinge, von denen ich bis zu diesem Augenblick selbst kaum etwas geahnt hatte, und nach ein paar Stunden war ich nicht mehr sicher, ob ich der Blume etwas erzählte oder die Blume mir.
Endlich hörte ich Earl Hawkin durch die Bäume rufen. Seine Stimme klang wie der Schrei eines großen, wilden Tieres. Ich ging zu der Lichtung, an der wir uns getrennt hatten, und sah, dass Emma mit ihrer Blume schon wartete.
Ihre Augen waren rot, sie musste geweint haben.
»Sehr gut«, sagte Earl Hawkin. »Nun gebt mir eure Blumen.«
Wir gehorchten, aber es war klar, dass wir uns nur widerwillig von unseren Geheimnissen trennten. Earl Hawkin, der in jeder Hand eine Blume hatte, hielt die eine rechts und die andere links an sein Ohr. Es war, als lausche er einer schönen Musik, die ein warmes Lächeln auf sein Gesicht zauberte.
»Ich werde diese Blumen nun zwischen ihren Brüdern und Schwestern verstecken«, sagte er und ging dorthin, wo die Blumen am dichtesten standen. Er verschwand hinter einer Baumgruppe und ließ mich mit Emma allein.
»Komisch, was?«, fragte ich.
»Kann man wohl sagen.«
»Ich glaube nicht, dass es funktioniert.«
»Und ich hoffe sogar, dass es nicht funktioniert«, sagte sie und sah mich an. »Ich habe der Blume so viel erzählt.«
»Ich auch«, sagte ich.
Earl Hawkin kam zurück und klatschte in die Hände. »Eure Geheimnisse haben sich im Wald verirrt. Geht jetzt und sucht einander.«
Emma und ich liefen in verschiedene Richtungen. Ich folgte einem schmalen Weg, der mich auf eine andere Lichtung führte, und wanderte dann ziellos umher. Lange Zeit erreichte ich weiter nichts, als dass meine Füße und die Ränder der Hosenbeine pitschnass wurden zwischen all den Blumen. Mein Mantel war dünn und leicht und mir wurde kalt. Mir kam es vor, als ob hier inzwischen mehr Blumen wuchsen als vorher, und so war ich überzeugt, dass ich Emmas Blume längst zertrampelt hatte, ohne es zu merken.
Sicher würde ich an dieser Aufgabe scheitern
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