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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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»Aber der Erzmagier hat im Reich des Todes all seine Macht verloren. Vielleicht ist die Magie dadurch geschwächt worden.«
    »Roses Zauber sind so wirksam wie eh und je«, erwiderte sie fest.
    Elfenbein lächelte. Er sagte nichts, aber sie wusste, wie unerheblich ihm das Treiben einer Dorfhexe Vorkommen musste, hatte er doch große Taten vorgeführt bekommen und große Mächte gefühlt. Sie seufzte aus ganzem Herzen. »Wenn ich doch nur keine Frau wäre!«
    Er lächelte wieder. »Ihr seid eine sehr schöne Frau«, sagte er mit Überzeugung, nicht in der schmeichelhaften Art, die er anfangs ihr gegenüber an den Tag gelegt hatte, bevor sie ihm zu verstehen gegeben hatte, dass sie das nicht mochte... »Warum wollt Ihr ein Mann sein?«
    »Dann könnte ich nach Rok gehen. Könnte beobachten und lernen! Warum dürfen nur Männer dorthin? Warum?«
    »So hat es der erste Erzmagier festgelegt, vor Jahrhunderten«, sagte Elfenbein. »Aber... ich habe mich auch darüber gewundert.«
    »Wirklich?«
    »Oft. Wann immer ich all die Jungen und Männer sah,
    Tag für Tag, im Großhaus und auf dem ganzen Schulgelände. Ich wusste zum Beispiel, dass die Stadtfrauen durch Zauber daran gehindert werden, auch nur einen Fuß auf die Felder rund um den Rokkogel zu setzen. Alle paar Jahre einmal erhält eine hoch gestellte Dame die Erlaubnis, kurz die äußeren Hofbezirke zu betreten. Warum das so ist? Sind alle Frauen unfähig zu verstehen? Oder ist es, dass die Meister sie fürchten - dass sie fürchten, verdorben zu werden? Nein! Aber sie fürchten, dass die Anwesenheit von Frauen die Regel verändern könnte, an die sie sich klammern, die... Reinheit dieser Regel...«
    »Frauen können keusch leben, genauso wie Männer auch«, sagte Schwebender Drache. Sie wusste, dass sie grob und unverblümt war, während er sich zartfühlend und feinsinnig gab, aber sie konnte nicht anders.
    »Natürlich«, erwiderte er und sein Lächeln wurde strahlend. »Aber Hexen sind nicht immer keusch, stimmt's? Vielleicht ist es das, wovor die Meister Angst haben. Vielleicht ist das Zölibat nicht so wichtig, wie die Regel von Rok behauptet. Vielleicht ist es nicht so sehr ein Weg, die Macht rein zu erhalten, als sie ganz für sich zu haben. Deshalb hält man Frauen und jeden fern, der nicht bereit ist, zum Eunuchen zu werden, um diese Art von Macht zu erlangen... Wer weiß, ein weiblicher Magier! Nun, das würde alles ändern, sämtliche Regeln!«
    Sie konnte seinen Geist vor sich sehen, wie er tanzte, Gedanken aufgriff, mit ihnen spielte und sie verwandelte, wie er zuvor den Stein in einen Schmetterling verwandelt hatte. Sie konnte nicht mit ihm tanzen, konnte nicht mit ihm spielen, aber sie sah ihm voller Staunen zu.
    »Du könntest nach Rok gehen«, sagte er in vertraulichem Ton und seine Augen strahlten vor Erregung und verschmitzter Kühnheit. Angesichts ihres fast flehentlichen, ungläubigen Schweigens wiederholte er: »Du könntest. Zwar bist du eine Frau, aber es gibt immer Mittel und Wege, die Erscheinung zu ändern. Du hast das Herz, den Mut und den Willen eines Mannes. Du könntest ins Großhaus hineinkommen. Ich weiß es.«
    »Und was sollte ich dort?«
    »Was alle Schüler tim. Allein in einer steinernen Zelle leben und die Weisheit studieren! Das ist vielleicht ganz anders, als du es dir erträumt hast, aber auch das würdest du lernen.«
    »Es würde nicht gehen. Sie würden es merken. Ich würde nicht mal hineinkommen. Da ist doch der Pförtner. Ich kenne das Wort nicht, das man zu ihm sagen muss.«
    »Das Wort, ja. Ich kann es dir verraten.«
    »Kannst du das? Ist das erlaubt?«
    »Es ist mir egal, was erlaubt ist«, meinte er mit einem Stirnrunzeln, das sie noch nie an ihm gesehen hatte. »Der Erzmagier selbst hat gesagt: Regeln sind dazu da, übertreten zu werden. Ungerechtigkeit macht die Regeln, Mut Übertritt sie. Ich habe den Mut, wenn du es willst!«
    Sie sah ihn an. Sie brachte kein Wort heraus. Dann stand sie auf, und nach einem Augenblick trat sie aus dem Pferdestall und stieg auf dem Pfad, der um den Hügel lief, auf dessen Gipfel hinauf. Einer der Hunde, ihr Liebling, ein großes, hässliches Tier mit schwerem Kopf, folgte ihr. An dem Hang oberhalb der sumpfigen Quelle, wo Rose ihr zehn Jahre zuvor ihren Namen gegeben hatte, blieb sie stehen. Der Hund setzte sich neben sie und sah zu ihr auf. Sie konnte keinen einzigen klaren Gedanken fassen, aber die Worte wiederholten sich in ihrem Geist: Ich könnte nach Rok gehen und

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