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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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herausfinden, wer ich bin...
    Sie blickte nach Westen, über das Schilfrohr, die Weiden und den Hügel in der Feme hinweg. Im Westen war der ganze Himmel rein und klar. Sie stand still, und ihre Seele schien in diesen Himmel einzugehen und war fort, fort aus ihr.
    Da ertönte ein kleines Geräusch, das leise Klappern von Hufen; die Stute kam den Weg herauf. Schwebender Drache kehrte wieder in sich zurück, rief nach Elfenbein und rannte den Hügel hinunter ihm entgegen. »Ich werde gehen«, sagte sie.
     
    Er hatte ein solches Abenteuer weder geplant noch vorhergesehen, aber verrückt, wie es war, gefiel es ihm immer besser, je länger er darüber nachdachte. Die Aussicht, den langen grauen Winter in Westpfuhl zu verbringen, lastete ihm zentnerschwer auf der Seele. Hier gab es nichts für ihn außer dem Mädchen Schwebender Drache, das seine Gedanken gefangen nahm. Ihre wuchtige, naive Stärke hatte ihn vollkommen überwältigt; er tat, was sie wollte, um sie letztlich dahin zu bringen, dass sie tat, was er wollte, und das war einen Versuch wert, dachte er. Wenn sie mit ihm durchbrannte, dann war das Spiel so gut wie gewonnen. Zwar bestand kaum eine Gelegenheit, sie wirklich als Mann verkleidet in die Schule hineinzuschmuggeln, aber das Ganze gefiel ihm als Akt der Respektlosigkeit gegenüber der steifen Würde und Aufgeblasenheit der Meister und ihrer Gefolgsleute. Und wenn es ihm nichtsdestotrotz glücken sollte, eine Frau durch diese Tür zu bringen, und sei es auch nur für einen Augenblick, welch süße Rache würde das sein!
    Geld war ein Problem. Das Mädchen dachte gewiss, er als großer Zauberer würde nur einmal mit den Fingern schnipsen müssen und sie auf einem Zauberboot vor einem Zauberwind übers Meer bringen. Doch als er ihr klarmachen wollte, dass sie die Überfahrt auf einem Schiff bezahlen mussten, sagte sie schlicht: »Ich habe das Käsgeld.«
    Er sammelte solche bäuerlichen Redeweisen von ihr. Manchmal erschreckte sie ihn und er nahm es ihr übel. Seine Träume zeigten nie sie, die sich nach ihm verzehrte, sondern immer nur ihn, den es nach einer wilden, leidenschaftlichen Süße verlangte, nach dem Untergang in einer Umarmung; Träume, in denen sie etwas vollkommen Unbegreifliches war und er überhaupt nichts. Erschüttert und voller Scham erwachte er des Morgens. Bei Tageslicht, wenn er ihre schmutzigen großen Hände sah und sie daherredete wie ein ungehobeltes Bauerntrampel, fand er seine Überlegenheit wieder. Er hätte sich nur jemanden gewünscht, demgegenüber er ihre Ausdrücke wiederholen konnte, einen seiner alten Freunde aus Großhafen zum Beispiel. »Ich habe das Käsgeld«, wiederholte er bei sich auf dem Rückweg nach Westpfuhl und lachte. »Ich habe es wirklich«, sagte er laut. Die schwarze Stute knickte ein Ohr ein.
    Er erzählte dem alten Birke, dass er von seinem Lehrer in Rok eine Nachricht erhalten habe und umgehend zurückmüsse. Den Grund dafür dürfe er natürlich nicht preisgeben, aber wenn er erst einmal dort war, werde es nicht lange dauern, ein halber Monat für die Hinreise, ein halber zurück; spätestens am Anfang des Herbstes wolle er zurück sein. Er müsse Meister Birke bitten, ihm einen Vorschuss auf seinen Lohn zu geben, damit er für Schiffsüberfahrt und Unterkunft aufkommen könnte, denn ein Magier aus Rok sollte nicht auf die Freigiebig-keit der Leute zählen, sondern wie jeder andere Mensch auch für seine Unkosten selbst aufkommen. Da Birke derselben Meinung war, gab er Elfenbein eine Börse mit auf seine Reise. Es war seit Jahren das erste wirkliche Geld, das er in der Tasche hatte: zehn Elfenbeinzehner, auf der einen Seite der Otter von Schelieth eingraviert, auf der anderen die Friedensrune zu Ehren von König Lebannen. »Hallo, kleine Namensvettern«, sagte er zu den Geldstücken, als er allein war. »Ihr und das Käsgeld werdet hübsch ausreichen.«
    Er erzählte Schwebender Drache fast nichts von seinen Plänen, hauptsächlich, weil er kaum welche machte und sich auf den Zufall und seinen eigenen Einfallsreichtum verlassen wollte, der ihn gewöhnlich nicht im Stich ließ. Das Mädchen stellte nur wenige Fragen. »Muss ich den ganzen Weg als Mann reisen?«, war eine davon. »Ja«, sagte er, »aber nur verkleidet. Einen Erscheinungszauber werde ich erst über dich wirken, wenn wir auf der Insel Rok angekommen sind.«
    »Ich dachte, es wäre ein Verwandlungszauber«, erwiderte sie.
    »Das wäre unklug«, sagte er in gelungener Nachahmung der

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