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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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Meister von Rok vorstellen.« Ihr Herz schlug wie rasend. Sie folgte ihm durch das Gewirr von Gängen in einen Raum mit dunklen Wänden und einer Reihe hoher Spitzbogenfenster. Da stand eine Gruppe von Männern, und jeder Einzelne wandte sich um und sah sie an, als sie den Raum betrat.
    »Irian aus Weg, meine Herren«, sagte der Pförtner. Alle schwiegen. Er führte sie tiefer in den Raum. »Der Meister der Verwandlung, den du schon kennen gelernt hast.« Er nannte all die anderen, doch sie konnte sich die Meister nicht merken, außer dem Meister der Kräuterkunde - es war derjenige, den sie für einen Gärtner gehalten hatte - und dem Jüngsten, einem großen Mann mit einem schönen, strengen Gesicht, das wie aus dunklem Stein gemeißelt wirkte: der Meister des Gebietens. Er war es, der das Wort ergriff, als der Pförtner sie jedem vorgestellt hatte. »Eine Frau«, sagte er.
    Der Pförtner nickte einmal, milde wie immer.
    »Und deswegen habt Ihr den Rat der Neun zusammengerufen? Nur deswegen?«
    »Nur deswegen«, antwortete der Pförtner.
    »Über dem Innenmeer sind Drachen gesichtet worden. Rok hat keinen Erzmagier und die Inseln keinen wahrhaft gekrönten König. Das ist die eigentliche Arbeit, die wir zu verrichten haben«, sagte der Gebieter; auch seine Stimme war wie aus Stein, kalt und lastend. »Wann wollen wir uns darum kümmern?«
    Es herrschte betretenes Schweigen, da der Pförtner nichts entgegnete. Schließlich fragte ein schmaler Mann mit leuchtenden Augen, der unter dem grauen Zauberermantel eine rote Tunika trug: »Bringt Ihr diese Frau als Schüler ins Haus, Meister Pförtner?«
    »Wenn ich es täte, so läge es bei Euch, das zu billigen oder nicht.«
    »Tut Ihr es?«, entgegnete der Mann in der roten Tunika mit einem kleinen Lächeln.
    »Meister Hand«, sagte der Pförtner, »sie hat darum gebeten, als Schüler eingelassen zu werden, und ich sah keinen Grund, ihr das zu verweigern.«
    Ein Mann mit einer tiefen, klaren Stimme wandte ein: »Nicht unser Urteil ist hier maßgeblich, sondern die Regel von Rok, auf die wir einen Eid geschworen haben.«
    »Ich bezweifle, dass der Pförtner ihr leichtfertig zuwider handeln würde«, widersprach ein anderer Meister, den Irian bisher kaum bemerkt hatte, obwohl er ein groß gewachsener Mann mit weißen Haaren, kräftigem Knochenbau und versteinertem Gesichtsausdruck war. Im Unterschied zu den anderen sah er sie an, als er mit ihr sprach. »Ich bin Kurremkarmerruk. Als Meister Namengeber schalte und walte ich frei mit Namen, meinen eigenen eingeschlossen. Wer hat dir deinen Namen gegeben, Irian?«
    »Die Hexe Rose aus unserem Dorf, mein Herr«, antwortete sie und stand aufrecht da, obwohl ihre Stimme hoch und krächzend klang.
    »Ist sie falsch benannt?«, fragte der Pförtner den Namengeber.
    Kurremkarmerruk schüttelte den Kopf. »Nein. Aber...«
    Der Gebieter, der ihnen den Rücken zugekehrt hatte, das Gesicht dem kalten Herd zugewandt, drehte sich nun um. »Die Namen, die Hexen geben, sind hier nicht von Belang«, sagte er. »Wenn Ihr irgendwelches Interesse an dieser Frau habt, Pförtner, solltet Ihr ihm außerhalb dieser Mauern nachgehen. Ihr habt geschworen, sie vor den Toren zu halten. Hier ist kein Platz für sie und es wird auch nie einen geben. Sie würde nur Verwirrung und Streit unter uns stiften und uns noch mehr schwächen. Ich werde kein Wort mehr in ihrer Anwesenheit sagen. Die einzige Antwort auf einen vorsätzlichen Irrtum ist Schweigen.«
    »Schweigen ist nicht genug, mein Herr«, erwiderte einer, der sich bisher noch nicht zu Wort gemeldet hatte. In Irians Augen sah er sehr merkwürdig aus, er hatte eine blasse, gerötete Haut, langes weißes Haar, schmale Augen in der Farbe von Eis. Seine Redeweise war ebenfalls merkwürdig, steif und irgendwie verzerrt. »Schweigen ist die Antwort auf alles und nichts«, sagte er.
    Der Gebieter hob sein edles, dunkles Gesicht und sah den blassen Mann durch den Raum hinweg an, entgegnete aber nichts. Ohne ein Wort oder eine Geste wandte er sich ab und verließ den Raum. Als er an Irian vorüber ging, schreckte sie vor ihm zurück. Es war, als habe sich ein Grab geöffnet, ein Wintergrab, kalt, feucht und dunkel. Sie rang nach Luft. Als sie sich wieder erholte, bemerkte sie, dass der Verwandler und der blasse Mann sie eingehend beobachteten.
    Der Meister mit der tiefen, tönenden Stimme sah sie ebenfalls an und sprach mit gemessener und wohlwollender Strenge zu ihr. »Wie ich es sehe, wollte der Mann, der

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