Das Vermächtnis von Erdsee
dich hierher gebracht hat, uns schaden, aber nicht dir. Deine Anwesenheit hier, Irian, bringt dir selbst und uns Schaden. Alles, was nicht an seinem Platz ist, richtet Schaden an. Ein gesungener Ton, und wenn er noch so schön gesungen ist, stört die Melodie, in die er nicht hineinpasst. Frauen unterrichten Frauen. Hexen lernen ihre Kunst von anderen Hexen und von Zauberern, nicht von Magiern. Was wir hier unterrichten, ist eine Sprache, die nicht für Frauenzungen bestimmt ist. Ein jugendliches Herz begehrt gegen solche Gesetze auf, nennt sie willkürlich. Aber es sind wahrhaftige Gesetze, sie gründen nicht auf dem, was wir wünschen, sondern auf dem, was wir sind. Und Gerechte wie Ungerechte, Törichte wie Weise müssen ihnen gehorchen oder sie vertun ihr Leben und enden in Kummer und Leid.«
Der Verwandler und ein hagerer alter Mann mit scharf geschnittenem Gesicht, der neben ihm stand, nickten zustimmend. Meister Hand sagte: »Irian, es tut mir Leid, Elfenbein war mein Schüler. Wenn ich ihn schlecht unterrichtet habe, dann habe ich noch schlechter daran getan, ihn fortzuschicken. Ich hielt ihn für unbedeutend, harmlos. Aber er hat dich betrogen und in die Irre geleitet. Du brauchst dich nicht zu schämen, es war sein Fehler - und meiner.«
»Ich schäme mich nicht«, erwiderte Irian. Sie sah die Meister offen an; sie fühlte, dass sie sich für ihre Freundlichkeit bedanken sollte, aber die Worte wollten ihr nicht über die Lippen kommen. Sie nickte ihnen steif zu, drehte sich um und verließ den Raum.
Der Pförtner holte sie ein, als sie an einer Abzweigung stehen blieb und nicht wusste, welchen Weg sie einschlagen sollte. »Hier entlang«, sagte er und lief neben ihr her, und nach einer Weile meinte er: »Dort entlang« und so kamen sie ziemlich rasch an eine Tür. Sie war nicht aus Horn und Elfenbein. Sie war aus roher Eiche, schwarz und massiv, mit einem von der Zeit abgenützten Eisenriegel. »Das ist die Hintertür«, sagte der Magier, als er den Riegel beiseite schob. »Medras Tür hat man sie früher genannt. Ich bewache beide Türen.« Er öffnete sie. Die Helligkeit des Tageslichts blendete Irian. Als sich ihre Augen daran gewöhnt hatten, sah sie einen Pfad, der von der Tür aus durch die dahinter liegenden Gärten und Felder führte; hinter den Feldern standen hohe Bäume und der Rokkogel erhob sich auf der rechten Seite. Doch auf dem Pfad gleich vor der Tür, als ob er dort auf sie gewartet hätte, stand der weißhaarige Mann mit den schmalen Augen.
»Formgeber«, sagte der Pförtner, überhaupt nicht überrascht.
»Wohin gedenkt Ihr diese Frau zu schicken?«, fragte der Formgeber in seiner merkwürdigen Redeweise.
»Nirgendwohin«, sagte der Pförtner. »Ich lasse sie hinaus, wie ich sie eingelassen habe, ganz nach ihrem Wunsch.«
»Willst du mit mir kommen?«, fragte der Formgeber Irian.
Sie sah ihn und wieder den Pförtner an und schwieg.
»Ich lebe nicht hier im Haus. In gar keinem Haus«, erklärte der Formgeber. »Ich lebe dort. Im Hain... Ah«, sagte er und drehte sich plötzlich um. Der große weißhaarige Mann, Kurremkarmerruk, der Namengeber, stand plötzlich auf dem Pfad. Entgeistert schaute Irian von einem zum anderen.
»Das ist nur eine Erscheinung von mir, eine Vorahnung, ein Geistbote«, erklärte der alte Mann. »Ich lebe auch nicht hier. Meilenweit entfernt.« Er deutete nach Norden. »Du könntest ja dort hinaufkommen, wenn du mit dem Formgeber hier fertig bist. Ich würde gern mehr über deinen Namen erfahren.« Er nickte den anderen beiden Magiern zu und war verschwunden. Eine Hummel brummte laut durch die Luft, wo er eben noch gestanden hatte.
Irian sah zu Boden. Nach einer langen Weile sagte sie mit einem Räuspern und ohne aufzuschauen: »Stimmt es, dass ich Schaden anrichte, wenn ich hier bin?«
»Das weiß ich nicht«, sagte der Pförtner.
»Im Hain gibt es keinen Schaden«, meinte der Formgeber. »Komm mit. Da ist ein altes Haus, eine Hütte. Alt und schmutzig. Das macht dir doch nichts, hm? Bleib ein Weilchen. Du wirst ja sehen.« Und er ging den Pfad entlang, zwischen Petersilie und Buschbohnen hindurch. Sie blickte den Pförtner an; er lächelte leicht. Sie folgte dem weißhaarigen Mann.
Sie gingen etwa eine halbe Meile. Der Hügel erhob sich zu ihrer Rechten in der Abendsonne. Hinter ihnen am unteren Hang stand die graue Schule mit ihren vielen Dächern. Der Hain mit seinen Bäumen erhob sich nun vor ihnen. Sie erkannte Eichen und Weiden, Kastanien und
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