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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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lauschte. Schließlich gingen sie weiter durch eine Stille, die jener Ruf aus der Feme weiter und tiefer gemacht hatte.
    Sie ging nie ohne ihn in den Hain, und es sollte viele Tage dauern, bis er sie zum ersten Mal darin allein ließ. Aber an einem heißen Nachmittag, als sie auf eine von Eichen umstandene Lichtung kamen, sagte er: »Ich komme hierher zurück, hm?«, ging mit seinem raschen, leisen Schritt davon und war fast sofort in dem gesprenkelten Helldunkel des Waldes verschwunden.
    Sie hatte nicht den Wunsch, den Hain für sich allein zu erkunden. Der Frieden des Orts verlangte nach Stille, Schauen, Lauschen; und sie wusste, wie verworren die Pfade waren und dass der Hain - wie der Formgeber sich ausdrückte - »innen größer ist als außen«. Sie setzte sich auf ein schattiges, sonnengepunktetes Fleckchen und betrachtete die Blätterschatten ringsum am Boden. Es lagen viele Eicheln herum; obwohl sie nie Wildschweine im Wald gesehen hatte, erkannte sie hier ihre Spuren. Für einen Augenblick roch sie die Witterung vom Fuchs. Ihre Gedanken bewegten sich so still und leicht wie die Brise im warmen Licht.
    Oft schien ihr Geist hier gedankenleer, erfüllt vom Wald selbst, doch an diesem Tag strömten lebhafte Erinnerungen auf sie ein. Sie dachte an Elfenbein, dachte, sie würde ihn nie Wiedersehen, fragte sich, ob er ein Schiff gefunden hätte, das ihn zurück nach Havnor brachte. Er hatte ihr erzählt, dass er nie wieder nach Westpfuhl zurückkehren wolle; der einzig wahre Ort für ihn war Großhafen, die Königsstadt, und wenn es nach ihm ging, konnte die Insel Weg so tief im Meer versinken wie Solea. Sie aber dachte voller Liebe an die Wege und Felder von Weg. Sie dachte an das Dorf Alt-Iria, die sumpfige Quelle unter dem Iria-Hügel, das alte Haus darauf. Sie dachte an Maßliebchen, wie sie an Winterabenden in der Küche Balladen sang und mit ihren Holzschuhen den Rhythmus dazu klopfte; und an den alten Kanin in den Weinbergen mit seinem scharfen Klappmesser, der ihr zeigte, wie man die Rebstöcke beschnitt, »ganz hinunter bis zum Lebenssaft«; und an Rose, ihre Etaudis, wie sie Zauberformeln flüsterte, um die Schmerzen eines gebrochenen Kinderarms zu lindern. Ich habe weise Menschen gekannt, dachte sie. Sie schreckte innerlich davor zurück, an ihren Vater zu denken, aber die Bewegung der Blätter und Schatten holte die Erinnerung herauf. Sie sah ihn betrunken, brüllend. Sie fühlte seine zittrigen Hände, die sie tätschelten. Sie sah ihn weinen, krank, beschämt, und Kummer stieg in ihr hoch und löste sich auf, wie ein Schmerz, der durch eine lange Dehnung hinwegschmilzt. Er bedeutete ihr weniger als ihre Mutter, die sie nicht gekannt hatte.
    Sie streckte sich und fühlte, wie Behagen ihren Körper in der Wärme durchströmte, und ihre Gedanken kehrten wieder zu Elfenbein zurück. Noch nie in ihrem Leben hatte sie jemanden begehrt. Als der junge Zauberer zum ersten Mal so behände und überheblich dahergeritten gekommen war, hätte sie sich gewünscht, ihn begehren zu können: aber sie konnte es nicht und tat es nicht, und daher hatte sie angenommen, er sei durch einen Zauber geschützt. Rose hatte ihr erklärt, wie solche Zauber wirkten, nämlich so, »dass es weder dir noch ihm je in den Sinn kommt, denn es würde ihm seine Macht rauben, sagt man«. Aber Elfenbein, der arme Elfenbein, war ungeschützt gewesen. Wenn jemand unter einem Keuschheitszauber stand, dann musste sie es ein, denn bei all seinem Charme und dem guten Aussehen hatte sie nie mehr für ihn empfunden als Wohlwollen, und ihre einzige Lust bestand darin zu lernen, was er ihr beibringen konnte.
    Sie betrachtete sich selbst, in der tiefen Stille des
    Hains sitzend. Kein Vogel sang, die Brise hatte sich gelegt, die Blätter hingen still herab. Bin ich verzaubert? Bin ich unfruchtbar, nicht wirklich eine Frau?, fragte sie sich und besah ihre kräftigen, nackten Arme, die leichte, sanfte Wölbung ihrer Brüste im Schatten unter dem Kragen ihrer Bluse.
    Sie blickte auf und sah den Grauen Mann aus dem grünen Dunkel der großen Eichen treten und über die Lichtung auf sie zukommen.
    Vor ihr blieb er stehen. Sie fühlte, wie sie rot wurde, Gesicht und Kehle glühten, ihr war schwindlig und in den Ohren sauste es. Sie suchte nach Worten, irgendetwas, was sie sagen könnte, um seine Aufmerksamkeit von ihr abzulenken, aber ihr fiel einfach nichts ein. Er setzte sich dicht neben sie. Sie blickte zu Boden, als wollte sie das Gerippe eines Blattes

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