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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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sich langsam an sein merkwürdiges Gesicht und konnte darin lesen. Sie glaubte, dass er traurig aussah. Seine Redeweise war nun barsch, schnell, trocken, friedfertig. »Die Männer auf der Insel sind nicht immer weise, hm?«, fragte er. »Vielleicht der Pförtner.« Er sah sie jetzt an, nicht flüchtig, sondern offen, seine Augen suchten die ihren und hielten sie fest. »Aber hier, im Wald, unter den Bäumen... hier ist das Urwissen. Das nie alt ist. Lehren kann ich es dich nicht. Ich kann dich in den Hain mitnehmen.« Nach einer Minute stand er auf. »Ja?«
    »Ja«, meinte sie unsicher.
    »Ist das Haus in Ordnung?«
    »Ja...«
    »Morgen«, sagte er und ging davon.
    In diesen heißen Sommertagen schlief Irian für einen halben Monat oder auch länger in Otters Haus, das ein friedliches Haus war; sie aß, was der Meister Formgeber ihr in seinem Korb brachte - Eier, Käse, Gemüse, Obst, geräuchertes Hammelfleisch -, und ging jeden Nachmittag mit ihm in den Hain mit den hohen Bäumen, wo die Pfade nie genau an der Stelle zu sein schienen, wo sie sie vermutete, und oft weit über die Grenzen des Waldes hinausführten. Schweigend gingen sie dahin und sprachen auch wenig, wenn sie Rast machten. Der Magier war ein stiller Mann. Obwohl eine Art von Wildheit in ihm war, zeigte er sie ihr niemals und seine Gegenwart war so leicht wie die der Bäume, der seltenen Vögel und vierbeinigen Geschöpfe im Hain. Wie er ihr gesagt hatte, versuchte er sie nichts zu lehren. Wenn sie nach dem Hain fragte, erzählte er ihr, dass er zusammen mit dem Rokkogel entstanden war, seit Segoy die Inseln der Welt erschaffen hatte, und dass alle Magie in den Wurzeln der Bäume lag und dass sie mit den Wurzeln sämtlicher Wälder in Verbindung standen, die es gab oder je geben würde. »Manchmal ist der Hain an einer Stelle«, erklärte er, »und manchmal an einer anderen. Aber immer ist er.«
    Sie hatte nie gesehen, wo er lebte. Er schlief, wo es ihm gefiel, stellte sie sich vor, in diesen warmen Sommernächten. Sie fragte ihn, woher das Essen komme, das sie aßen. Womit die Schule sich nicht selbst versorgen konnte, sagte er, lieferten die Bauern aus der Umgebung, die sich durch den Schutz, den die Meister ihren Herden, Feldern und Obstgärten boten, für ausreichend entlohnt hielten. Das leuchtete ihr ein. In Weg galt ein >Zauberer ohne Brot< als etwas nie Dagewesenes, gar Unerhörtes. Aber sie war kein Zauberer und so tat sie ihr Bestes, um sich ihr Brot zu verdienen, indem sie Otters Haus instand setzte, sich von einem Bauern Werkzeug borgte und in der Stadt Thwil Nägel und Gips kaufte; sie hatte noch immer die Hälfte des Käsgeldes.
    Der Formgeber kam nie vor Mittag zu ihr, sodass sie am Morgen frei war. Sie war das Alleinsein gewöhnt, doch sie vermisste Rose und Maßliebchen und Kanin und die Hühner und Kühe und Schafe und die wild tobenden Hunde, und all die Arbeit, die sie zu Hause verrichtete, um Alt-Iria zusammenzuhalten und das Essen auf den Tisch zu bringen. Gemächlich werkelte sie den Morgen vor sich hin, bis sie den Magier unter den Bäumen näher kommen sah, das helle Haar glänzend im Schein der Sonne.
    War sie erst einmal im Hain, dann gab es keinen Gedanken mehr an Verdienst oder Lohn, ja nicht einmal mehr an Lernen. Da zu sein war genug, war alles.
    Als sie ihn fragte, ob die Schüler vom Großhaus hierher kämen, antwortete er: »Manchmal.« Ein anderes Mal sprach er: »Meine Worte sind nichts. Lausche auf die Blätter.« Das war alles, was er sagte und was man hätte Lehren nennen können. Beim Gehen lauschte sie auf die Blätter, wenn der Wind in ihnen wisperte oder durch die Baumwipfel rauschte; sie betrachtete das Spiel der Schatten und dachte an die Wurzeln der Bäume tief unten im Dunkel der Erde. Sie war vollauf damit zufrieden, dort zu sein. Doch immer fühlte sie, ohne unzufrieden oder ungeduldig zu sein, dass sie auf etwas wartete. Und diese stille Erwartung war am tiefsten und deutlichsten, wenn sie aus dem Schutz der Bäume heraustrat und den offenen Himmel sah.
    Einmal, als sie sehr weit gegangen waren und die Bäume, dunkle Nadelbäume, die sie nicht kannte, hoch über ihnen standen, hörte sie einen Ruf - ein geblasenes Horn, ein Weinen? sehr fern, vom äußersten Rand des Hörens. Sie hielt inne und lauschte in Richtung Westen. Der Magier ging weiter, er wandte sich erst um, als er merkte, dass sie stehen geblieben war.
    »Ich hörte...«, begann sie und konnte nicht sagen, was sie gehört hatte.
    Er

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