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Das Vermächtnis von Erdsee

Das Vermächtnis von Erdsee

Titel: Das Vermächtnis von Erdsee Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ursula K. Leguin
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Eschen und hohe Nadelbäume. Aus dem dichten Dunkel, durchbrochen nur von vereinzelten Sonnenstrahlen, plätscherte ein Bach mit grünen Uferbänken, die an vielen Stellen braun und zertrampelt waren, wo Rinder und Schafe tranken oder ihn durchwateten. Sie waren durch das Gatter über eine Wiese gekommen, fünfzig oder sechzig Schafe, die auf die kleine, leuchtende Weide schauten und jetzt dicht beim Bach standen. »Dieses Haus«, sagte der Magier und deutete auf ein niedriges, bemoostes Dach, das im nachmittäglichen Schatten der Bäume fast verborgen war. »Bleib heute Nacht. Willst du?«
    Er bat sie, zu bleiben, er befahl es ihr nicht. Sie konnte nur nicken.
    »Ich bringe dir zu essen«, sagte er und ging weiter, beschleunigte dabei seinen Schritt, sodass er bald im Helldunkel unter den Bäumen verschwunden war, freilich nicht so plötzlich wie der Namengeber. Irian sah ihm nach, bis er wirklich endgültig fort war, dann ging sie durch das hohe Gras und Unkraut auf das kleine Haus zu.
    Es sah sehr alt aus. Es war immer wieder instand gesetzt worden, aber es hatte wohl nie jemand länger darin gelebt. Doch es fühlte sich angenehm an, so als ob die, die darin geschlafen hatten, einen friedlichen Schlaf gehabt hätten. Alles Übrige, die abbröckelnden Wände, Mäuse, Spinnweben und das spärliche Mobiliar, war nicht neu für Irian. Sie fand einen Reiserbesen und kehrte ein wenig aus. Dann breitete sie ihre Decke auf der Bettplanke aus. In einem Schränkchen mit schief hängender Tür fand sie einen gesprungenen Krug und füllte ihn mit Wasser vom Bach, der ein paar Schritte entfernt vor ihrer Tür vorbeiplätscherte. Sie tat diese Dinge wie in einer Art Trance, und als sie damit fertig war, setzte sie ich ins Gras, den Rücken an die Hauswand gelehnt, die noch die Wärme des Tages abstrahlte, und schlief ein.
    Als sie aufwachte, saß der Meister Formgeber ganz in der Nähe; zwischen ihnen stand ein Korb im Gras.
    »Hungrig? Iss nur!«, sagte er.
    »Ich esse später, Meister. Danke«, erwiderte Irian.
    »Ich habe jetzt Hunger«, meinte der Magier. Er nahm ein hart gekochtes Ei aus dem Korb, schlug es auf, schälte es und aß es.
    »Das hier wird Otters Haus genannt«, sagte er. »Sehr alt. So alt wie das Großhaus. Alles hier ist alt. Auch wir, die Meister, sind alt.«
    »Ihr nicht«, entgegnete Irian. Sie schätzte ihn zwischen dreißig und vierzig, obwohl es schwer zu sagen war; sie dachte nach wie vor, sein Haar sei ergraut, weil es nicht schwarz war.
    »Aber ich komme von weit her. Und Meilen können Jahre sein. Ich bin ein Karg, aus Karego. Hast du davon gehört?«
    »Die Grauen Männer!«, rief Irian aus und starrte ihn unverwandt an. All die Balladen fielen ihr wieder ein, die Maßliebchen gesungen hatte, von den Grauen Männern, die aus dem Osten gesegelt kamen, das Land verwüsteten und unschuldige Kinder auf ihre Lanzen spießten... und die Sage, wie Erreth-Akbe den Ring des Friedens verlor, und die neuen Gesänge und die Königssage, wie der Erzmagier Sperber zu den Grauen Männern ging und mit diesem Ring wiederkam...
    »Grau?«, fragte der Formgeber.
    »Frostig. Weiß«, sagte sie und schaute verlegen zur Seite.
    »Ah.« Dann meinte er: »Der Meister des Gebietens ist nicht alt.« Und sie spürte einen langen Blick von der Seite aus diesen schmalen, eisfarbenen Augen.
    Sie schwieg.
    »Ich glaube, du hattest Angst vor ihm.«
    Sie nickte.
    Als sie nichts weiter dazu sagte und ein wenig Zeit verstrichen war, erklärte er: »Im Schatten dieser Bäume gibt es nichts Böses. Nur Wahrheit.«
    »Als er an mir vorüberging«, sagte sie leise, »sah ich ein Grab.«
    »Ah«, meinte der Formgeber.
    Er hatte die Eierschalen zu einem kleinen Häuflein zusammengeschoben. Jetzt ordnete er die weißen Bruchstücke zu einem Halbmond, dann zu einem Kreis an.
    »Ja«, sagte er und betrachtete seine Eierschalen, kratzte den Boden etwas auf und vergrub sie fein säuberlich. Er staubte sich die Hände ab. Wieder huschte sein Blick zu Irian und wieder weg.
    »Warst du eine Hexe, Irian?«
    »Nein.«
    »Aber du verstehst etwas davon?«
    »Nein, ich verstehe nichts davon. Rose wollte mir nichts beibringen. Sie sagte, sie wage es nicht. Weil ich eine Macht in mir hätte, die ihr unbekannt sei.«
    »Deine Rose ist ein weise Blume«, sagte der Magier ohne ein Lächeln.
    »Aber ich weiß, ich muss... Ich muss etwas tun, etwas werden. Deshalb bin ich hierher gekommen. Um es herauszufinden. Auf der Insel der Weisen.«
    Sie gewöhnte

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