Das Vermächtnis von Erdsee
vom Vorjahr studieren, das zufällig da lag.
»Was will ich?«, fragte sie sich, und die Antwort kam nicht in Worten, sondern strömte durch ihren ganzen Körper und ihre Seele: das Feuer, eine größeres Feuer als dieses, den Flug, den Feuerflug...
Sie kehrte in sich zurück, in die Stille unter den Bäumen. Der Graue Mann saß neben ihr, das Gesicht nach unten geneigt, und sie dachte: Wie schmal und hell er aussieht, wie ruhig und kummervoll. Da war nichts zu fürchten. Da war nichts Böses.
Er sah zu ihr herüber.
»Irian«, sagte er, »hörst du die Blätter?«
Eine leichte Brise hatte sich wieder erhoben, sie konnte ein leises Flüstern in den Eichen vernehmen. »Ein wenig«, antwortete sie.
»Hörst du die Worte?«
»Nein.«
Sie fragte nicht weiter und er sagte nichts mehr. Bald stand er auf, und sie folgte ihm auf dem Pfad, der sie immer früher oder später aus dem Wald heraus auf die
Lichtung beim Thwilbach und zum Otter-Haus führte. Als sie dort ankamen, war es später Nachmittag. Er ging an den Bach hinunter und trank dort, wo er aus dem Wald herauskam, oberhalb der Furten. Sie machte es ebenso. Dann saßen sie im kühlen, hohen Gras nebeneinander und er fing an zu sprechen.
»Mein Volk, die Kargs, verehrt Götter. Zwillingsgötter, Brüder. Und der König ist bei ihnen auch ein Gott. Aber zu Beginn und nachher sind da die Flüsse. Höhlen, Steine, Hügel. Bäume. Die Erde. Die Dunkelheit der Erde.«
»Die Urmächte«, sagte Irian.
Er nickte. »Dort wissen die Frauen um die Urmächte. Hier auch, die Hexen. Und das Wissen ist schlecht, hm?«
Wenn er dieses kleine, fragende »hm« an das anfügte, was ihr wie eine Behauptung erschienen war, überraschte sie das immer wieder. Sie sagte nichts.
»Dunkel ist schlecht«, sagte der Formgeber. »Hm?«
Irian holte tief Luft und sah ihm direkt in die Augen, wie er so vor ihr saß. »Nur im Dunkeln gibt es Licht«, sagte sie.
»Ah«, sagte er. Er schaute weg, sodass sie seinen Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.
»Ich sollte gehen«, sagte sie. »Ich kann im Hain herumgehen, aber ich kann hier nicht leben. Das ist nicht... mein Ort. Und der Meister der Lieder hat gesagt, ich richte Schaden an, wenn ich hier bin.«
»Wir alle richten Schaden an, indem wir sind.«
Er machte, wie er es oft tat, aus irgendetwas, das er gerade zur Hand hatte, eine Art Stilleben: auf etwas Sand am Bachufer vor sich legte er einen Blattstiel, einen Gashalm und ein paar Kiesel. Er betrachtete sie und ordnete sie neu an. »Jetzt muss ich ein wenig über Schaden sprechen«, sagte er.
Nach einer längeren Pause fuhr er fort. »Du weißt, dass ein Drache unseren Lord Sperber zusammen mit dem jungen König von den Ufern des Todes zurückbrachte. Dann nahm der Drache Sperber mit zu sich, seine Macht war verschwunden, er war kein Magier mehr. Also kamen bald darauf die Meister von Rok hier im Hain zusammen, wie immer, um einen neuen Erzmagier zu wählen. Aber es war nicht wie immer.
Bevor der Drache kam, war der Meister des Gebietens ebenfalls durch den Tod gegangen und wiedergekehrt. Er kann das, seine Kunst erlaubt es ihm. Er hatte unseren Herrn und den jungen König dort gesehen, in diesem Land jenseits der Steinmauer. Er sagte, sie würden nicht wiederkommen; Lord Sperber habe ihm aufgetragen, zu uns zurückzukehren, ins Leben, um seine Worte zu bewahren. So trauerten wir um unseren Herrn.
Doch dann kam der Drache, Kalessin, der ihn lebend wiederbrachte.
Der Meister des Gebietens war damals unter uns, als wir auf dem Rokkogel standen und den Erzmagier vor König Lebannen knien sahen. Dann, als der Drache unseren Freund mitnahm, fiel der Meister des Gebietens nieder.
Er lag da wie tot, erkaltet, sein Herz schlug nicht, doch er atmete. Der Meister der Kräuterkunde versuchte seine ganze Kunst an ihm, aber konnte ihn nicht erwecken. >Er ist tot<, sagte er. >Der Atem wird ihn nicht verlassen, aber er ist tot.< So trauerten wir um ihn. Dann aber, als unter uns große Bestürzung herrschte und all meine Formen auf Veränderung und Gefahr hindeuteten, trat der Rat zusammen, um den neuen Wächter von Rok zu wählen, einen Erzmagier, der unser Führer sein sollte. Und in unserem Rat setzten wir den jungen König an die Stelle des Gebieters. Uns erschien es richtig, dass er unter uns sitzen sollte. Nur der Meister der Verwandlung sprach zuerst dagegen, war dann aber einverstanden.
Wir trafen also zusammen, hielten Sitzungen ab, aber wir konnten keine Wahl treffen. Wir sagten
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