Das Vermächtnis von Thrandor - Das Schwert aus dem Feuer
eine ihrer berühmten Schimpftiraden.
»Schön. Ihr zwei könnt euch glücklich schätzen, dass ihr bei einem Spähtrupp gelandet seid, der euch so bald nach der Ausbildung an einem Markttag in die Stadt führt. Viele Gefreite müssen Monate warten, bis sie für so einen Dienst eingeteilt werden. Und dann haben wir auch noch genug Zeit, um einkaufen zu gehen. Habt ihr etwas gefunden, das euch gefällt?«
»Oh ja«, erwiderte Jenna begeistert und vergaß mit einem Mal alle Schranken. »Da drüben an dem Stand am Ende des Gangs auf der rechten Seite steht ein wunderbarer Bogen zum Verkauf. So einen wie den habe ich noch nie gesehen. Der Händler sagt, er sei aus Agarholz und von Vandar persönlich gefertigt. Aber leider will er fünfundzwanzig Goldstücke.«
»Ach ja! Den Bogen kenne ich. Er hat ihn schon eine Weile, und er wird noch eine ganze Zeit auf ihm sitzen bleiben, wenn er nicht verdammtes Glück hat.«
»Warum das?«, fragte Jenna überrascht. »Eine so hochwertige Waffe müsste doch leicht zu verkaufen sein.«
»Stimmt«, antwortete Derra. »Solche Waffen sind selten. Der Adel und die wohlhabenderen Hauptleute sind ständig auf der Suche danach. Aber wie viele Adlige und Hauptleute sind schon Bogenschützen? Nicht viele. Fast ohne Ausnahme ist ihre bevorzugte Waffe das Langschwert. Die Leute, die sich einen so kostbaren Langbogen leisten könnten, werden also kaum so viel Geld für eine Waffe ausgeben, die sie dann doch nicht nutzen.«
»Das klingt einleuchtend«, stimmte Jenna nachdenklich zu. »Aber es ist doch eine Schande, dass eine so schöne Waffe ungenutzt auf einem Marktstand liegt, wenn es Menschen
wie mich gibt, die bereitwillig all ihren Besitz hergeben würden, um sie in den Händen zu halten.«
»Ja leider, aber daran wird sich nichts ändern«, meinte Derra. »Und was ist mit dir, Calvyn? Hast du etwas gefunden, das dich reizt?«
»Einiges, ja. Aber hauptsächlich habe ich genossen, mal die Burg zu verlassen. Die andere Umgebung wirkt enorm erfrischend.«
»Und auch das andere Essen, wie ich sehe«, bemerkte Derra grinsend.
»Entschuldigung! Möchtet Ihr auch etwas?«
Derra hob ablehnend die Hand und schüttelte den Kopf.
»Nein, vielen Dank. Eher sollte ich etwas für euch springen lassen, nach dem, was ihr in den vergangenen fünf Monaten durchmachen musstet.«
Calvyn und Jenna wechselten einen kurzen, ungläubigen Blick. Derra bemerkte es und lachte.
»Ich bin nicht so herzlos, wie ihr vielleicht meint. Aber denkt jetzt bloß nicht, dass ich euch nicht mehr hart rannehme, nur weil ihr die Ausbildung beendet habt. Davon kann keine Rede sein. Ich hoffe jedoch, wir haben in Zukunft nebenbei auch ein bisschen Spaß.«
Calvyn und Jenna trauten ihren Ohren nicht. Der Gedanke, mit Korporalin Derra Spaß zu haben, erschien ihnen ein wenig abwegig. Die Angst vor ihrem hitzigen Temperament saß zu tief, als dass sie sie in einem Moment der Milde und Freundlichkeit einfach hätten ablegen können. Doch das verschmitzte Blinken in Derras Augen war unverkennbar. Es erschütterte das Bild von der humorlosen, kaltherzigen und herrischen Anführerin, das Calvyn bisher von ihr gehabt hatte. Die Mauer, die sie um sich errichtet hatte, war dick genug gewesen, um niemanden dahinter blicken zu lassen.
»Sagt mal, habt ihr euch schon einmal die Zukunft vorhersagen lassen?«, fragte Derra plötzlich.
»Einmal. Aber das ist lange her«, antwortete Jenna. »Es war ein Haufen Quatsch. Nichts von dem, was die alte Wahrsagerin mir erzählt hat, ist wahr geworden.«
Calvyn schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich, dass Perdimonn die Wahrsager auf den Märkten stets gemieden hatte. Calvyn hatte den alten Magier eines Tages darauf angesprochen, als sie gerade dabei waren, ihre Waren zur Abfahrt in den Wagen zu packen.
»Können Seher wirklich in die Zukunft schauen?«, fragte der junge Calvyn betont beiläufig.
»Nur die wenigsten von ihnen«, antwortete der alte Mann nach einer kurzen Pause. »Die meisten sind Hochstapler und Scharlatane, die den Leuten etwas vorspielen, um ihre Taschen mit dem Geld abergläubischer Stadtmenschen zu füllen. Es gibt jedoch ein paar Wahrsager, die tatsächlich über die Fähigkeit verfügen, Bruchstücke der Zukunft zu sehen. Aber selbst wenn die Vision stark und deutlich ist, können sich die Ereignisse noch ändern oder auch gar nicht stattfinden. Denn es gibt nicht nur eine mögliche Zukunft, sondern mehrere. Mit jeder Entscheidung, die du triffst, löschst du eine
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