Das Vermächtnis von Thrandor - Das Schwert aus dem Feuer
dieser Möglichkeiten aus.«
»Und warum schauen sie dann überhaupt in die Zukunft, wenn doch nichts sicher ist?«, fragte Calvyn.
»Aus verschiedenen Gründen. Einige tun es, weil sie immer wieder merken, dass ihre Visionen wahr werden, andere, weil sie von ihren okkulten Eltern in diese Richtung gelenkt wurden. Die meisten aber betrachten die Wahrsagerei als bequeme Geldquelle.«
Calvyn hatte die Wahrsager auf den Märkten seitdem immer misstrauisch beäugt und sich gefragt, ob die exzentrischen Gestalten, die fast auf allen Märkten in Thrandor zu
sehen waren, wohl Betrüger waren oder nicht. Es hatte ihn immer fasziniert, wie verschieden die Menschen waren, die zu den Sehern gingen, aber er hätte nie gedacht, dass Derra zu der abergläubischen Sorte zählte.
»Na, diese alte Hexe könnte dich überraschen, Jenna«, fuhr die Korporalin fort. »Viele der Dinge, die sie mir vorhergesagt hat, sind tatsächlich eingetreten. Ich habe nie viel von der Sache gehalten, aber einer der Korporale ließ sich vor einigen Jahren die Zukunft lesen und überredete mich, es auch einmal zu versuchen. Damals war ich noch Gefreite. Die alte Seherin hat meine Beförderung auf den Tag genau vorhergesagt. Und glaubt mir, keiner war mehr überrascht darüber als ich, denn ich habe mich immer als durchschnittlichen Soldaten betrachtet. Wer weiß, was sie euch beiden erzählt.«
»Ach, ich weiß nicht …«, wich Calvyn unsicher aus.
»Komm schon, Calvyn. Was soll schon Schlimmes passieren?«, fragte Jenna. »Sag nicht, du hast Angst vor einer alten Hexe!«
»Beurteile einen Feind nie nach dem ersten Anschein«, zitierte Calvyn eine Warnung Derras aus der Ausbildung. Aber er sagte es mit einem Grinsen im Gesicht.
»Feind! Ich glaube, Ihr solltet diesen Calvyn im Auge behalten, Korporalin. Er will sich mit alten Weibern anlegen. Die Uniform und das Schwert sind ihm wohl zu Kopf gestiegen«, scherzte Jenna.
Calvyn und Derra lachten.
Das Lachen der Korporalin war für die beiden frisch gebackenen Gefreiten etwas vollkommen Neues. Calvyn fiel auf, dass er heute zum ersten Mal erlebte, wie Derra echte Fröhlichkeit ausstrahlte. Es war ein erhebendes Gefühl. Sosehr er die Herausforderungen beim Militär schätzte, wurde ihm nun mit einem Mal klar, dass eben dieser freundliche
Ton eine ganz neue Wertschätzung seines Standes einläutete.
»Schon gut, schon gut! Ich gebe auf!«, rief Calvyn und hob die Hände zum Zeichen der Kapitulation. »Dann wollen wir mal sehen, was die Zukunft uns bringt. Geht nur voran, Korporalin, obwohl ich schon ahne, wohin Ihr gehen werdet, denn …« Calvyn schloss die Augen, legte die Finger an die Schläfen und ahmte die tiefe, unheimliche Stimme der Wahrsager nach: »… ich sehe, wie Ihr uns in den zweiten Gang links führt.«
Jenna gab ihm einen Schubs.
»Danke, Jenna. Wenn du es nicht getan hättest, hätte ich das erledigt«, sagte Derra. Ihr Gesichtsausdruck war hart und streng wie eh und je, und ihre Stimme klang schroff.
Calvyn schluckte, denn er dachte, er habe eben eine unsichtbare Grenze überschritten. Dann aber erschien erneut ein Grinsen auf dem Gesicht der Korporalin.
»Ich spiele die Strenge gar nicht so schlecht, oder?«, meinte sie und lachte vergnügt über Calvyns Unbehagen.
»Ganz herausragend, wirklich«, bestätigte Calvyn mit einem erleichterten Seufzen.
Die drei blauschwarz gekleideten Soldaten bahnten sich einen Weg durch die Menge und traten vor einen einfachen, mit einem schwarzen Tuch bedeckten Tisch, an dem eine alte Frau saß. Sie trug ein schlichtes Gewand, das vielleicht einmal weiß gewesen, nun aber von schmutzigem Grau war. Ihr strähniges graues Haar war zu einem unordentlichen Knoten zurückgebunden und ihr wettergegerbtes, von tiefen Falten durchzogenes Gesicht verriet keinerlei Regung. Sie starrte ins Leere und wartete auf ihren nächsten Kunden.
Als Korporalin Derra gegenüber der alten Frau Platz
nahm, bemerkte Calvyn, dass die Augen der Seherin vom grauen Star getrübt waren.
Diese Frau muss vollkommen blind sein, dachte er. Derra legte ihr je eine Kupfermünze in die aufgehaltenen knotigen Hände.
Die alte Frau steckte das Geld ein und ergriff Derras Hände. Das Gesicht der Hexe zerschnitt ein Grinsen, das eine Reihe Zahnstummel offenbarte. Sie stimmte ein vergnügtes, kratziges Gekicher an, weil sie Derras Hände erkannte.
»Ah, die Unerbittliche kommt noch einmal, um mehr zu sehen. Was wünscht du zu wissen?«
»Ich möchte wissen, was du in
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