Das Vermächtnis von Thrandor - Der Pfad der Jägerin
entlanggeführt und war mit der Berührung des Felsens zu Ende gewesen. Doch es waren die kaum wahrnehmbaren Veränderungen, die Jenna beunruhigten. Dazu kam, dass der Traum nichts, aber auch gar nichts mit ihren Problemen zu tun hatte. Jenna fand einfach keine Erklärung dafür.
Schaudernd setzte sich Jenna auf und blickte sich in dem Saal um, in dem die anderen Truppmitglieder tief schliefen. Da sie die Augen nicht schließen und den Traum noch einmal durchleben wollte, nahm sie sich vor, wach zu bleiben.
Zweimal nickte Jenna in dieser Nacht ein, immer mit demselben Ergebnis. Als das Wecksignal ertönte, war Jenna am Ende ihrer Kräfte.
»Bei Tarmins Zähnen, Jenna, du siehst ja furchtbar aus«, sagte Demarr mitleidig, als er von seinem Stockbett kletterte. »Ich muss dich wohl nicht fragen, wie du geschlafen hast. Willst du nicht in die Krankenstube gehen und dir einen Schlaftrunk geben lassen? So kann es doch nicht weitergehen.«
Jenna nickte. Mit müden, blutunterlaufenen Augen und aschfahlem Gesicht zog sie sich die Uniform an. Es war zwecklos, Demarr zu erklären, dass nicht Calvyns Verschwinden ihr den Schlaf raubte. Er hätte es ihr sowieso nicht geglaubt. Mit der mechanischen Genauigkeit, die sich in Monaten der Wiederholung einstellt, zog sie ihr Bett ab und legte Laken und Decke zu einem sauberen Stapel zusammen. Dann kämmte sie sich das Haar zurück und band es zu einem strengen Pferdeschwanz zusammen.
Kurz darauf erschien Korporalin Alana zum Morgenappell
und verteilte die Aufgaben für den Tag. Demarr war wohl ebenso überrascht wie der Rest des Trupps, als er den Auftrag erhielt, seine Kameraden im Schwertkampf anzuleiten. Alana befahl allen, die keine andere Order erhalten hatten, darunter Jenna, an den Waffen zu trainieren und die Rekruten nach Kräften zu unterstützen.
Jenna gefiel Korporalin Alana. Da es nicht viele weibliche Unteroffiziere gab, war es ungewöhnlich, in der Befehlskette einen weiblichen Korporal und einen weiblichen Sergeanten über sich zu haben. Viele ihrer männlichen Kameraden, so vermutete Jenna, hätten allerdings wohl Calvyn vorgezogen.
Korporalin Alana war den meisten Truppmitgliedern noch unbekannt, denn sie hatte in den vorangegangenen Jahren nicht auf Burg Keevan gedient. Jenna hatte den Blondschopf auf dem langen Marsch nach Mantor und auf dem Rückweg hin und wieder im Lager gesehen, aber nie etwas mit ihr zu tun gehabt. Nach allem, was sie in den vergangenen drei Tagen gesehen und gehört hatte, pflegte Alana ein harmonisches Verhältnis zum Trupp.
Es wäre für Alana ein Leichtes gewesen, gleich alles nach ihren Vorstellungen umzukrempeln. Stattdessen hatte sie jedoch Calvyns Führungsstil fortgeführt und sich zunächst darauf beschränkt, Stärken und Schwächen der Truppmitglieder festzustellen.
Dass sie nun Demarr das Schwerttraining überließ, war Alanas erste unabhängige Entscheidung als Truppführerin. Bei den Kameraden kam das möglicherweise nicht gut an, überlegte Jenna, spiegelte aber Demarrs Fähigkeiten angemessen wider.
Als Jenna den Schlafsaal verließ, nahm Korporalin Alana sie an der Tür beiseite.
»Jenna, du siehst erschöpft aus. Geh noch heute in die
Krankenstube und lass dir ein Schlafmittel geben«, sagte Alana ruhig.
Jenna wollte zunächst etwas erwidern, nickte dann aber. »Ja, Korporalin.«
Alana, bald zehn Zentimeter kleiner als Jenna, musterte die Gefreite aufmerksam und lächelte sie dann freundlich an.
»Du frisst deinen Kummer zu sehr in dich hinein, Jenna. Du musst ihn auch einmal loswerden. Wenn du mit jemandem reden willst, kannst du gern zu mir kommen. Aber das Wichtigste ist Schlaf, sonst bist du im Kampf völlig nutzlos.«
Jenna hielt ihrem Blick einen Moment stand. Es ärgerte sie, dass beiden Menschen, mit denen sie sich an diesem Morgen unterhalten hatte, ihre Müdigkeit aufgefallen war. Doch sie hatte Alana nichts entgegenzusetzen.
»Ich werde mich bemühen, Korporalin. Danke«, erwiderte sie und schloss sich dann dem Rest des Trupps an, der sich bereits aufgestellt hatte, um zum Frühstück zu gehen.
An diesem Morgen übte Jenna wieder den Schwertkampf mit Eloise. Obwohl sie immer wieder gähnen musste, beteiligte sie sich in der Mittagspause an der Unterhaltung mit ihr und den anderen Rekruten. Beim Bogentraining am Nachmittag jedoch zeigten ihre schlaflosen Nächte eine unerwartete Wirkung.
Trotz ihrer Müdigkeit gelang es Jenna, einen Pfeil nach dem anderen ins Schwarze zu schießen. Doch jedes Mal,
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