Das Vermächtnis von Thrandor - Der Pfad der Jägerin
wenn sie die Atmung verlangsamte, sich entspannte und innerlich von ihrer Umgebung löste, hörte sie wieder die Stimme hartnäckig nach ihr rufen.
Als sie in diesem Zustand den nächsten Pfeil abschoss, geschah es: Sie spürte, wie ihr Geist ihren Körper verließ. Es war seltsam, hinabzusehen auf die aufgeregten Menschen,
die sich um ihren zusammengesackten Körper kümmerten. Doch sie hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn schon raste ihr Geist auf der vertrauten Route übers Land.
Obwohl es helllichter Tag war, verlief die Reise wie gehabt, mit einer kleinen Ausnahme: Der Tonfall des Alten hatte sich verändert.
»Jenna, komm. Jenna, ich brauche deine Hilfe.«
Die Verzweiflung, ja ein Anflug von Panik war deutlich herauszuhören. Die Person, die Jenna rief, war jetzt in tiefer Sorge.
Dann, als Jenna auf den einsamen Berggipfel zuflog, sagte die Stimme plötzlich etwas Neues.
»Jenna, komm. Jenna, ich brauche deine Hilfe. Calvyn ist in Gefahr.«
Jenna landete auf dem Gipfel und schrie aus voller Kehle der körperlosen Stimme zu: »Ich bin hier. Was soll ich tun? Ich bin hier, ich bin hier.«
Schluchzend rannte sie zu dem großen Fels und blieb wie angewurzelt stehen, als im Grau des Monolithen schemenhaft das Gesicht eines alten Mannes sichtbar wurde.
»Ah! Da bist du ja. Komm zu mir, Jenna, das ist unsere einzige Hoffnung. Zusammen können wir Calvyn vielleicht das Leben retten. Er ist ernsthaft in Gefahr.«
»Wer bist du?«, japste Jenna ungläubig.
»Es hat mich ungeheuer viel Kraft gekostet, dich zu rufen. Ich bin erschöpft. Du weißt, was zu tun ist. Wirst du es tun?«
»Um Calvyn zu helfen, würde ich alles tun. Sag mir, was es ist«, rief sie außer sich, denn das Bild des Alten verblasste zusehends.
Es war zu spät. Das Gesicht war verschwunden, und in der Ferne hallte es nur noch wie ein Echo: »Jenna, komm. Jenna, ich brauche deine Hilfe.«
»Nein!«, schrie sie. »Komm zurück!«
Doch sie erhielt keine Antwort. Der düstere Berggipfel und das bedrohliche Panorama schwiegen. Kein Raunen des Windes war mehr zu hören und auch die Wolken drifteten völlig geräuschlos an Jennas einsamer Seele vorbei. Am Rande einer großen vorbeiziehenden Wolke blitzte die Sonne hindurch, doch auch ihre warmen Strahlen konnten die Schwermut, die sich über Jenna gesenkt hatte, nicht lindern.
Wie soll ich nur je wieder herfinden?, fragte sie sich wie betäubt. Außerdem kann ich doch Baron Keevans Heer jetzt nicht verlassen. Die Thrandorier kämpfen in einem unerklärlichen Krieg, und das auch noch in der Unterzahl. Da kann ich meine Vorgesetzten doch nicht bitten, mich in die Berge gehen zu lassen, damit ich einen Ort aufsuche, den es vielleicht nur in meinen Träumen gibt! Das war Wahnsinn. Doch eines war klar: Sie würde alles tun, egal, wie verrückt es war, wenn sie nur Calvyn retten konnte.
Entschlossen ging sie zum Fels und sprach den Alten ein letztes Mal an.
»Gut, alter Mann, ich versuche herzukommen. Ich versuche es, hörst du?«
Mit diesen Worten legte Jenna die Handflächen auf den Stein, dort, wo noch wenige Augenblicke zuvor die Züge des Alten zu sehen gewesen waren, und wachte nach Atem ringend auf dem Boden des Waffenübungsplatzes auf.
»Ist alles in Ordnung?«
»Was ist denn geschehen?«
»Kannst du uns hören?«
Jenna blickte verständnislos in das verschwommene Meer aus Gesichtern. Dann merkte sie, dass sich die Menschen um sie herum verhielten, als seien erst wenige Sekunden vergangen, seit ihr Geist seinen traumähnlichen Flug
angetreten hatte. Ehe sie ihre Gedanken sammeln und jemandem antworten konnte, drang eine weitere Stimme an ihr Ohr.
»Bitte alle zurücktreten. Macht Platz.«
Die harsche Stimme von Sergeantin Derra durchschnitt das Stimmengewirr. Die Umstehenden folgten ihrem Befehl und Derras vertrautes Gesicht tauchte über Jenna auf. Die eckigen Augenbrauen missbilligend nach oben gezogen, berührte sie sanft Jennas Stirn.
»Du hast kein Fieber, aber du wirkst verstört. Ruhig, Jenna. Wir bringen dich gleich in die Krankenstube.«
»Ich glaube, ich brauche keinen Arzt, Sergeantin«, erwiderte Jenna. »Aber ich möchte so bald wie möglich unter vier Augen mit Euch sprechen.«
»Unsinn, Gefreite. Du bist leichenblass. Bist du verletzt? Soll ich eine Trage kommen lassen, oder kannst du laufen?«
»Ich kann laufen, Sergeantin.«
Jenna nahm Derras ausgestreckte Hand und ließ sich auf die Füße ziehen. Als sie stand, klopfte sie sich Sand und Staub von
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