Das Vermächtnis von Thrandor - Der Pfad der Jägerin
erzählen, im letzten Jahr gut versteckt oder du hast in den vergangenen Tagen tatsächlich Erstaunliches erlebt«, sagte Derra nachdenklich. »Als du vorhin gesagt hast, dass du mit mir sprechen möchtest, und dann angefangen hast, mir deine Geschichte zu erzählen, dachte ich, du wolltest mich auf die Schippe nehmen.«
»Wie bitte, Sergeant?«
»Auf den Arm nehmen, veräppeln, an der Nase herumführen«, sagte Derra und fuhr sich mit den Fingern durchs kurze Haar. »Aber eine innere Stimme sagt mir, dass du wirklich an diese unfassbare Geschichte glaubst. Nach allem, was bei Mantor geschehen ist, würde es mich auch nicht überraschen, wenn Magie oder Übernatürliches im Spiel wäre.«
»Verzeiht, Sergeantin Derra, glaubt Ihr wirklich, ich würde mich trauen, mir einen Spaß mit Euch zu erlauben?«, fragte Jenna verblüfft.
»Oh, ich hab keine Sekunde angenommen, dass es deine Idee war, Jenna. Seit ich bei Mantor zur Sergeantin ernannt wurde, warte ich darauf, dass mir die anderen Sergeanten und Korporale einen Streich spielen. Das ist so eine Art Tradition, aber behalte das bitte für dich. Kein Wort, verstanden?«
»Selbstverständlich, Sergeant.«
»Es ist ja auch kein Scherz, oder?«, fragte Derra mit gefährlich blitzenden Augen.
Niemand, der auch nur den Ansatz eines Selbsterhaltungstriebs besaß, hätte es gewagt, in dieses Gesicht zu lügen,
und Derra wusste sehr gut um ihre Wirkung. Denn als Jenna sanft den Kopf schüttelte, nickte sie kurz und das Thema war erledigt.
»Darf ich also …«, begann Jenna.
»Auf keinen Fall«, unterbrach sie Derra.
»Aber ich …«
»Jenna, du wirst nicht freigestellt, um dich auf eine wahnwitzige Reise zu einem Ort zu begeben, den es vielleicht nicht einmal gibt. Dein Können und dein Geschick sind hier gefordert. Muss ich dich daran erinnern, dass du vertraglich noch ein Jahr an das Heer des Barons gebunden bist, ehe du auf Wunsch aus dem Dienst ausscheiden kannst?«
Jenna schüttelte verzweifelt den Kopf.
»So groß mein Mitgefühl für deinen Verlust ist, muss ich dir doch sagen, dass die Botschaft des letzten Traums sehr vage war. Es könnte auch ein Trick sein, dich zu einer Zeit wegzulocken, da du hier gebraucht wirst. Die wirkungsvollsten Waffen gegen die Shandeser waren bislang unsere Langbogen, und du bist einer unserer besten Schützen, wenn nicht der beste. Der Baron, seine Hauptleute oder ich können deiner Entlassung unmöglich zustimmen.«
Jennas Mut sank. Die Antwort bestätigte ihre Befürchtungen. Es würde nicht einfach werden wegzukommen.
»Wenn du erwägst wegzulaufen, vergiss es«, sagte Derra, als habe sie ihre Gedanken gelesen. »Der Baron würde dich als Deserteurin brandmarken und du wärst geächtet. Wenn man dich in diesem Teil der Welt schnappen würde, wäre dein Leben nichts mehr wert.«
Jenna seufzte traurig. Schon seit Monaten hatte sie das Gefühl, dass ihr Schicksal sich zusehends ihrer Kontrolle entzog. Vor dem kurzen Krieg gegen die Nomaden, der das militärische und politische Machtgleichgewicht in Thrandor verschoben hatte, war alles so einfach gewesen. Doch
nun schienen sich die Wellen, die Demarr mit seiner Machtübernahme in der Wüste Terachim geschlagen hatte, zu einer gewaltigen Woge aufzubauen, die ihr Leben mit sich zu reißen drohte, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.
Dann kam Jenna ein Gedanke. Eigentlich war es mehr eine Erinnerung. Was hatte die Wahrsagerin ihr damals auf dem Markt noch gesagt? Hatte sie ihr nicht angekündigt, dass sie auf eine lange Reise gehen würde?
»Sergeantin, wisst Ihr noch, als Ihr Calvyn und mich mit zur Wahrsagerin genommen habt? Ihre Vorhersagen für Euch und auch für Calvyn sind doch eingetroffen«, begann Jenna zögernd.
An Derras zusammengekniffenen Augen war deutlich abzulesen, dass sie die Erinnerung daran immer noch mit Zorn erfüllte. Die wahnsinnige Alte hätte Calvyn damals fast mit einem Dolch getötet. Doch vorher hatte sie ihnen allen drei die Zukunft vorausgesagt. Derras Prophezeiung hatte schlicht und einfach Beförderung und Krieg gelautet. Beides war bereits eingetreten. Calvyn hatte sie vorhergesagt, dass er auf den Auserwählten treffen würde. Auch dies war in Mantor geschehen, als Calvyn im Zweikampf mit Demarr die Schlacht zugunsten der Thrandorier entschieden hatte. Aber was war mit Jennas Prophezeiung?
»Mir hat sie gesagt, ich würde auf eine lange Reise gehen …«
»Und das hast du getan – nach Mantor und zurück«, unterbrach
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