Das Vermächtnis von Thrandor - Der Pfad der Jägerin
es keine Aussicht auf Rettung. Und selbst wenn sie etwas erfuhren, würden der Baron oder seine Hauptleute wohl nicht weitere Soldaten mit einer tollkühnen Befreiungsaktion in Gefahr bringen.
Jenna wusste, warum sie so ein schlechtes Gewissen hatte – da sie Calvyn liebte, waren solche Gefühle völlig normal. Was Jenna allerdings nicht ansatzweise begriff, war der Traum, der sie seit Neuestem plagten.
Träume von Calvyn, wie sie sie in der ersten furchtbaren Nacht nach seinem Verschwinden gehabt hatte, hätte sie wohl mittlerweile als willkommene Abwechslung von der wiederkehrenden und unerklärlichen nächtlichen Vision empfunden, die sie seither heimsuchte. Jedes Mal, wenn Jenna die Augen schloss und sich zu entspannen versuchte,
begann die Stimme nach ihr zu rufen. Besonders verwirrend war, dass Jenna sie nicht kannte, der Rufer aber wusste, wer sie war. Es war die Stimme eines Mannes, eines älteren Mannes, überlegte sie, bevor sie wieder in den Traum hinabgezogen wurde.
»Jenna, komm. Jenna, ich brauche deine Hilfe«, rief die körperlose Stimme eindringlich.
Die Stimme wiederholte diese Worte wieder und wieder, und dann hatte Jenna das Gefühl, als erhebe sich ihr Geist aus ihrem Körper und entschwebe in die kühle Nachtluft. Immer höher stieg sie auf über der Burg, drehte ab und flog mit zunehmender Geschwindigkeit über die dunkle Landschaft.
Wälder und Hügel rasten nur so unter Jenna dahin, während sie im Traum Einzelheiten wahrnahm, die normalerweise kein menschliches Auge im Licht des Halbmondes hätte sehen können: Kühe, die auf den Feldern friedlich grasten, eine Händlerkarawane, die an einem Nebenweg rastete und deren Wachen sich im flackernden Licht des Feuers schweigend die Zeit mit einem Würfelspiel vertrieben, einen Fuchs, der um einen Hühnerstall schlich und nach einem Loch in der Bretterwand suchte. Jedes Mal, wenn sie auf dem schaurig lautlosen Flug war, fielen ihr andere Einzelheiten ins Auge: Mal war es eine Schleiereule, die auf eine Wühlmaus niederstieß, mal ein Pferd, das an einer Hecke plötzlich vor einem Marder scheute und über die Wiese davonjagte.
Die Richtung änderte sich von West nach Nord, Jenna stieg noch höher und flog ins Vortaff-Gebirge hinein.
»Jenna, komm. Jenna, ich brauche deine Hilfe.«
Die Stimme zog sie unablässig einen Bergpass entlang, den sie mit ihrem unnatürlich scharfen Blick deutlich unter sich sehen konnte. Die Stelle, an der sie von der Route des
Passes abwich, war ihr mittlerweile ebenso vertraut wie der letzte Aufstieg zum Gipfel des Berges.
»Jenna, komm. Jenna, ich brauche deine Hilfe.«
Dort, auf dem merkwürdig schalenförmigen Berggipfel, stand einsam und eindrucksvoll ein riesiger Felsmonolith.
»Jenna, komm. Jenna, ich brauche deine Hilfe.«
Jenna glitt sanft zum Gipfel hinab, kam auf den Füßen zu stehen und ging auf den großen Felsen zu, der stolz dastand wie ein Monument aus längst vergessenen Tagen. Die Stimme schien nun näher zu sein und war dennoch weit weg. Jenna forschte ohne Erfolg nach ihrem Ursprung. »Wo bist du? Was willst du von mir?«, rief sie.
»Jenna, komm. Jenna, ich brauche deine Hilfe.«
Gleich, wo Jenna suchte, sie konnte den Sprecher nicht finden. Es war entsetzlich und doch musste er hier irgendwo sein. Wenigstens wusste sie nun, wie sie den Traum beenden konnte. Wenn sie die Hände auf den grauen Fels legte, war sie bisher noch jedes Mal aufgewacht. Sie tat es allerdings nur widerwillig, wollte sie doch herausfinden, wer der Mann war, der so unbeirrt nach ihr rief.
»Bitte«, rief sie, »zeig dich doch. Wie soll ich dir helfen, wenn ich nicht weiß, wo du bist?«
Doch wie die Male zuvor gab ihr die Stimme keine Antwort, sondern wiederholte nur immer wieder ihre Bitte. Die Stimme klang nicht ängstlich, noch war Bosheit darin, sie war einfach nur beharrlich und geduldig. Jenna meinte allerdings einen Anflug von Verzweiflung herauszuhören, der in der Nacht zuvor noch nicht da gewesen war.
Da sie nicht wusste, was sie tun sollte, stellte sich Jenna schließlich vor den Monolithen. Ein letztes Mal sah sie sich um und rief: »Ich weiß nicht, wer du bist, und ich weiß nicht, wobei ich dir helfen soll. Wenn du es mir nicht sagen willst, dann lass mich bitte in Ruhe.«
Damit legte sie die Handflächen auf den Stein und wachte in der Mannschaftsunterkunft auf.
Dreimal in der Nacht zuvor und zweimal in dieser hatte Jenna die Traumreise gemacht. Jedes Mal hatte der Traum sie dieselbe Strecke
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