Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
warum sich unsere Vorzüglichkeit mit keinem würdigeren und ausgezeichneteren Namen als mit dem des Presbyters benennen lässt […], so soll sich deine Klarheit darüber nicht verwundern. […] Unsere Hoheit hat es nämlich nicht für passend gehalten, sich mit derartigen Namen und Titeln, von denen unser Hof so voll ist, zu benennen, und aus Demut es vorgezogen, sich mit einem geringeren Namen und anderen Rängen zu bezeichnen.«
    Brief des Johannes Presbyter, 351 – 364
    Zagrosgebirge
Am Morgen des nächsten Tages
    Als Rowan blinzelnd die Augen aufschlug, war der neue Tag bereits angebrochen. Er wusste nicht, ob ihn die Helligkeit geweckt hatte, die jenseits der schroffen Felsen aufstieg und den Himmel mit Tönen von Hellblau und Zartrosa überzog, oder die Kälte des Morgens, die in seine Glieder gekrochen war. Stöhnend richtete er sich auf.
    Die letzten Augenblicke, an die er sich erinnerte, kamen ihm in den Sinn: sein Fehltritt auf dem schmalen Gebirgspfad, der Sturz in die schreckliche Leere, schließlich der harte Aufprall. Er griff sich an den Kopf, als müsse er prüfen, ob er sich noch an Ort und Stelle befände. Zwischen den Fingern fühlte er geronnenes Blut, das am Hinterkopf sein kurzes Haar verklebte, aber ganz offenbar hatte sich die Wunde geschlossen. Einen Lidschlag lang spürte Rowan Erleichterung – dann musste er an Cassandra denken.
    An ihre rätselhaften Worte, an die Trauer in ihren Augen, ihren überstürzten Abschied, der einer Flucht gleichkam.
    Wohin war sie gegangen?
    Und aus welchem Grund?
    Auf das wenige, das sie ihm enthüllt hatte, konnte sich Rowan keinen Reim machen: dass sie ihn verraten hätte, dass sie sein Feind sei. Was hatte das zu bedeuten?
    Tränen der Ratlosigkeit und der Verzweiflung stiegen Rowan in die Augen, und ihm kam der Gedanke, einfach inmitten des Geröllfeldes sitzen zu bleiben, das unterhalb des Pfades verlief und seinen Sturz aufgefangen hatte, und darauf zu warten, dass der Herr ihn von allem Schmerz und allen Fragen erlöste. Wie lange würde es dauern, bis er an Hunger und Durst zugrunde ging? Zwei Tage? Eine Woche? Bald schon würden sich die Aasfresser einfinden, um ihm bei lebendigem Leibe das Fleisch von den Knochen zu hacken. Oder ein Raubtier würde auftauchen und seinem Leben ein rasches Ende setzen, vorausgesetzt, er hatte Glück.
    Rowan konnte nicht anders, als zu lachen. Es war das Gelächter eines Verzweifelten, dem alles genommen worden war.
    Zuerst Bruder Cuthbert.
    Dann seine Hoffnung.
    Und schließlich Cassandra.
    Irgendwann versiegte der Fluss der Tränen. Woher er die Kraft dazu nahm, wusste er selbst nicht zu sagen, aber er raffte sich auf die Beine. Was sollte er nun tun? Wohin sollte er sich wenden?
    Alles in ihm drängte ihn dazu, die Verfolgung Cassandras aufzunehmen. Aber zum einen wusste er nicht, wohin sie gegangen war, zum anderen gab es auf dem felsigen Grund keine Spuren, denen er folgen konnte. Weiter nach Bruder Cuthbert zu suchen erschien ihm ebenfalls aussichtslos. Insgeheim hatte Rowan gehofft, dass Cassandra irgendwann einen Traum haben würde, der ihnen etwas über den Verbleib des Benediktiners verriet, aber jetzt …
    Blieb also nur, den Weg zurück in die Heimat einzuschlagen, doch auch dagegen wehrte sich alles in ihm. Zum einen, weil er kaum Hoffnung hatte, jemals dort anzukommen, zum anderen, weil es ihm widerstrebte, unverrichteter Dinge abzuziehen. Es wäre ihm falsch und feige vorgekommen. Im Grunde, dachte er resignierend, war es einerlei, wie er sich entschied. So und so war ihm ein bitteres Ende bestimmt, sei es durch Hunger und Durst, durch die Zähne von Raubtieren oder die Klingen der Schattenkrieger, und vermutlich war dies die Bestrafung dafür, dass er trotz Bruder Cuthberts Mahnung nicht von der Sünde gelassen hatte.
    Langsam, fast widerwillig schickte er sich an, das Geröllfeld hinaufzusteigen. Er hob den Kopf, der noch immer schmerzte, und blickte an den steil aufragenden Felswänden empor – um verblüfft innezuhalten.
    Ungläubig schirmte er mit der Hand die Augen ab, um gegen das gleißende Morgenlicht besser sehen zu können. Doch das Bild blieb bestehen, unabänderlich: Der Felsen, der oberhalb der Spalte aufragte, in der Cassandra und er das Nachtlager aufgeschlagen hatten, hatte die Form eines Löwen!
    Vom Pfad weiter oben hatten sie es nicht sehen können, doch vom Grund des Geröllfelds aus waren ganz deutlich der Kopf und das Maul zu erkennen. Kein Zweifel, eine weitere Voraussage aus

Weitere Kostenlose Bücher