Das verschollene Reich
unmissverständlich eine Warnung darstellte. Eine Warnung, umzukehren und das Land jenseits dieser unsichtbaren Grenze zu meiden. Aber sollte er jetzt umkehren? Nachdem er womöglich dabei war, das Rätsel zu lösen, dessentwegen sie all die Mühen und Gefahren auf sich genommen hatten?
Nein.
Rowan fasste sich ein Herz und wollte weiterziehen, als sein Blick auf einen der Gegenstände fiel, die auf den Steinen ausgebreitet lagen. Rostige Waffen waren darunter und Gebrauchsgegenstände aus Knochen oder Horn – sowie ein tropfenförmiger Gegenstand aus Messing mit einer ledernen Schnur.
Ein Pendel!
Rowan blieb wie angewurzelt stehen.
Mit vor Aufregung zitternder Hand griff er nach dem Pendel, bekam die Schnur zu fassen und hob es langsam hoch.
Er erkannte es wieder.
Es war Bruder Cuthberts Pendel!
Jener unscheinbare Gegenstand, den ihm der Mönch in Palmyra gezeigt und der ihn angeblich Geduld und Weisheit gelehrt hatte.
Noch einmal fiel Rowans Blick auf den Schädel, der ihm leer und tot entgegenstarrte – und Abscheu und Entsetzen stieg in ihm auf, als ihm klar wurde, dass er seinen Meister nicht länger zu suchen brauchte.
Er hatte ihn gefunden.
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6
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»Glatt wie Butter ist seine Rede, doch Streit ist sein Sinnen; seine Worte sind linder als Öl und sind doch gezückte Schwerter.«
Psalm 55,22
Ausläufer des Zagrosgebirges
7. Juni 1187
Wie oft hatte sie sich den Tag ihrer Rückkehr vorgestellt – wenn sie ihre Mission beendet haben und ins Lager einreiten würde, wenn sie den Lohn für ihre Mühen ernten und das Lob und die Anerkennung ihres Meisters entgegennehmen würde.
Doch als sie das Kamel jetzt zwischen den Reihen der Zelte hindurchlenkte, die im Schutz der Hügel errichtet worden waren, hatte sie nicht das Gefühl, Lob oder gar Anerkennung zu verdienen. Im Gegenteil: Sie schämte sich, nicht so sehr für das, was sie getan hatte, sondern für das, was sie war.
Sich an den Gestirnen orientierend, war sie in die verabredete Richtung geritten. Die Fähigkeiten nutzend, die man ihr beigebracht hatte, hatte sie sich unauffällig und ohne Spuren zu hinterlassen fortbewegt und das Lager so ohne Zwischenfälle erreicht. Mit Befremden stellte sie fest, dass sie keine Erleichterung verspürte, als sie die Losung nannte und die Wachtposten passierte. Zu verwirrend war das, was geschehen war, zu verunsichernd, was sie verspürte.
Ein junger Offizier nahm ihr Kamel am Zügel und führte es zum Lagerplatz des Kommandanten. Dort stieg sie ab und trat an den beiden Wachen vorbei in das geräumige Zelt. Der Mann, der den Oberbefehl über die Streitmacht führte, war in das Studium einiger Karten versunken, die er auf einem niedrigen Tisch ausgebreitet hatte. Er blickte nicht auf, als sie eintrat, als wollte er sie mit Missachtung bestrafen.
Wortlos sank sie auf die Knie und verbeugte sich ehrerbietig. »Ich bin zurück, Herr«, sagte sie dann.
Er hob nicht sofort das Haupt. Als er es schließlich tat, verriet der Blick seiner dunklen Augen keine Überraschung.
»Du bist hier«, stellte er fest.
»Ja, Herr«, bestätigte sie leise.
Er starrte sie lange und durchdringend an, während die Adern an seinen Schläfen deutlich anschwollen. Er war nicht zufrieden mit ihrer Leistung, konnte es nicht sein. Nicht bei den Zielen, die er sich gesetzt hatte. Nicht, wenn man bedachte, was auf dem Spiel stand.
»Berichte«, verlangte er nur.
Kein Wort der Begrüßung. Keine Freude über das Wiedersehen.
Noch immer war sie auf den Knien, den Blick auf den Boden geheftet. »Ich habe getan, was Ihr mir aufgetragen habt«, erwiderte sie leise. »Ich habe sie glauben gemacht, dass ich nicht wüsste, woher ich käme. Ich habe ihr Vertrauen gewonnen und ihre Freundschaft, besonders die des jungen Mönchs.«
»Dennoch hast du uns nicht, wie es vereinbart war, ans Ziel geführt«, sagte ihr Meister.
»Nein«, gestand sie und verbeugte sich noch ein wenig tiefer aus Furcht vor Strafe. »Verzeiht.«
»Ich soll dir verzeihen?« Nun erhob er sich, umrundete den Kartentisch und kam auf sie zu. Unruhe und Furcht befielen sie, sie wusste, wozu er im Zorn fähig war. »Was ist geschehen?«
»Die Mission ist gescheitert«, erwiderte sie. »Der alte Mönch ist tot – und mit ihm jede Hoffnung, den Priesterkönig zu finden.«
»Verdammt.« Ihr Meister ballte die rechte Hand zur Faust. »Und was ist mit dem jungen Mönch? Der, der Zutrauen zu dir gefasst hat?«
»Er hatte nicht die Kenntnisse seines Meisters«,
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