Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
Vom Netzwerk:
Wahrheit beflissen und lieben uns gegenseitig. Kein Laster herrscht bei uns.«
    Brief des Johannes Presbyter, 203 / 204
    Zagrosgebirge
Ende Mai 1187
    »Eine Lüge?«
    Zäh wie Harz krochen die Worte über Rowans Lippen und so gallebitter wie Erbrochenes. »Was … meinst du damit?«
    Er hatte das Gefühl, der Welt entrückt zu sein. Die Umgebung, die schmale Schlucht mit dem Streifen Sternenhimmel darüber, nahm er kaum noch wahr, ebenso wenig wie die Wärme, die vom Feuer ausging. Im Gegenteil, er spürte eisige Kälte, und alles, was er sah, waren Cassandras von flackerndem Schein beleuchtete Züge, die wie eine Erscheinung vor ihm schwebten.
    »Ich bin nur eine Figur, Rowan«, entgegnete sie leise wie jemand, der seine Sünden bekennt, »eine Figur in einem Spiel.«
    »Einem … einem Spiel?« Rowan sah sie an, starrte in ihr Gesicht, das schön war und anmutig wie je – in diesem Moment jedoch wie geborstenes Glas zu Splittern zu zerfallen schien. Furcht hatte sein Herz ergriffen und zerdrückte es mit eiserner Faust. »Was bedeutet das?«
    Sie erwiderte seinen Blick, Tränen in den Augen. »Es bedeutet, dass ich nicht die bin, als die du mich kennengelernt hast«, gestand sie flüsternd. »Nicht die, für die du mich hältst.«
    »Wer … bist du dann?«
    »Der schwarze Ritter hatte recht«, erwiderte sie. »Beginne keine Suche, die du nicht zu Ende bringen willst. Und frage nicht nach Dingen, die du nicht erfahren willst.«
    »Was soll das heißen? Ich verstehe nicht …«
    Sie sah ihn an, atmete tief ein und aus wie jemand, der im Begriff war, unterzutauchen und sich in ein fremdes Element zu begeben. »Ich bin dein Feind«, erklärte sie schlicht, »denn ich habe dich verraten.«
    »W-was?« Rowan kam sich vor wie ein Idiot. Das Gefühl, in einen bodenlosen Abgrund zu stürzen, ergriff von ihm Besitz.
    »Ich habe deinen Meister und dich absichtlich getäuscht und euch belogen«, fuhr sie leise fort, »ich habe deine Zuneigung missbraucht und dich willentlich in Gefahr gebracht.«
    »Das … ist nicht wahr!«
    »Ich wünschte, es wäre so«, versicherte sie, »doch all diese Dinge habe ich getan. Und zwar aus Gründen, die ich dir nicht sagen kann, ohne dich noch mehr in Gefahr zu bringen. Du musst mir glauben, dass ich unendlich bedaure, was ich getan habe – und aus diesem Grund habe ich eine Entscheidung getroffen«, fügte sie hinzu und erhob sich.
    »Was … was hast du vor?« Verwirrt stand Rowan ebenfalls auf.
    »Unsere Wege trennen sich hier«, erklärte sie mit einer Entschlossenheit, die ihn erschreckte. »Wenn ich noch länger bleibe, wird dir etwas zustoßen, und das will ich nicht. Ich möchte, dass du lebst, Rowan«, fügte sie hinzu, während sie sich langsam zurückzog. »Bitte verzeih mir.«
    »Cassandra!«
    Er streckte die Hand nach ihr aus, doch sie schüttelte den Kopf und wich noch weiter zurück. Mit jedem Schritt, den sie sich aus dem Lichtkreis des Feuers entfernte, schien die Dunkelheit sie mehr zu verschlingen. »Folge mir nicht, Rowan«, flüsterte sie. »In einem meiner Träume sehe ich einen Mann am Boden liegen, einen Pfeil in seinem Kopf. Ich habe Angst, dass du dieser Mann sein könntest.«
    »Aber …«
    »Suche nicht länger nach deinem Meister, Rowan! Bring dich in Sicherheit, solange noch Zeit dazu ist. Kehre zurück zu den Deinen, aber meide Jerusalem, denn die Heilige Stadt wird untergehen!«
    Damit fuhr sie herum und stürzte davon, war im nächsten Augenblick unter dem Mantel der Nacht verschwunden.
    »Cassandra!«, rief Rowan.
    Die einzige Antwort, die er erhielt, war das Scharren von Kamelhufen auf dem steinigen Boden. »Bleib hier«, rief er und rannte los, »es ist zu gefährlich! Die Schatten …!«
    Auch er verließ den Lichtkreis des Feuers und stürzte hinaus in die Dunkelheit, hastete durch die schmale Schlucht, in der Hoffnung, Cassandra noch aufhalten zu können. Einen kurzen Augenblick lang sah er sie und das Reittier, das sie am Zügel führte, noch als schemenhafte Umrisse, dann waren sie verschwunden.
    »Warte!«
    Er rannte weiter, passierte die Mündung der Felsspalte – und trat plötzlich ins Leere. Die Erinnerung an den schmalen Pfad, der vor der Felswand verlief und auf der anderen Seite steil abfiel, zuckte grell wie ein Blitz durch sein Bewusstsein, aber es war zu spät.
    Vergeblich ruderten seine Arme in der Luft und suchten nach Halt, während er bereits nach vorne kippte und lautlos ins Leere stürzte.

----
5
----

    »Wenn du ferner fragst,

Weitere Kostenlose Bücher