Das verschollene Reich
Cassandras Träumen hatte sich bewahrheitet, und der nächste Wegweiser zum Reich des Priesterkönigs war gefunden! Wie aus alter Gewohnheit beschleunigte sich Rowans Herzschlag, für einen Moment war er aufgeregt wie ein kleiner Junge. Dann wurde ihm jäh bewusst, dass er als Einziger übrig war, dem Hinweis zu folgen.
Der letzte Teilnehmer der Expedition.
Der Entschluss war in ihm gereift, noch ehe er den Pfad erklommen hatte. Weder würde er sich auf die Rückreise begeben noch verlorenen Träumen nachjagen. Nein, er würde die Suche nach dem Reich Johannis fortsetzen. Nicht nur, weil er das Gefühl hatte, es Bruder Cuthbert schuldig zu sein, sondern auch, weil es seine Entscheidung war.
Seine Wiedergutmachung. Seine Buße.
Und was Cassandra betraf …
Rowan liebte sie, daran bestand kein Zweifel. Aber er hatte schon genug Torheiten begangen. Sich gegen jede Vernunft auf die Suche nach ihr zu begeben, hätte alle bisherigen noch weit übertroffen. Cassandra hatte sich als Gegner zu erkennen gegeben und seine Freundschaft zurückgewiesen, das musste er vorerst wohl hinnehmen. Die einzige Möglichkeit, all dem einen Sinn zu geben und das Andenken seines Meisters zu ehren, bestand darin, dessen Mission zu Ende zu führen. Vielleicht, so sagte er sich, gab es allen Vorhersagen Cassandras zum Trotz ja doch noch Hoffnung für das Königreich. Er erreichte das Lager und packte seine wenige Habe zusammen. Cassandra hatte nur ihr eigenes Kamel mitgenommen, Rowans Reit- sowie das Packtier hatte sie zurückgelassen. In aller Eile machte Rowan die Dromedare abmarschbereit, dann führte er sie durch die enge Schlucht zurück auf den Pfad, der sich um den Löwenfelsen schlängelte. Erst als er das unwegsame Gelände dahinter erreichte, das von Felsbrocken und niedrigem Gebüsch übersät war, stieg er in den Sattel.
Gegen Mittag wurde das Gelände steiler und noch steiniger, sodass die wenigen Pflanzen inmitten von Fels und Geröll verloren wirkten. Den Pfad, auf den Rowan schließlich stieß, schien die Natur in das Gestein geschnitten zu haben.Er folgte ihm – nicht, weil er sicher gewesen wäre, dass es der richtige war, sondern weil es der einzige war. Schroffes Felsgestein und von Wetter und Wind verkrüppelte Nadelbäume bedeckten das von reißenden Bächen durchzogene Bergland, das immer wilder und urwüchsiger wurde, je weiter Rowan hinaufgelangte.
Über einen steilen Aufstieg, bei dem er die Kamele am Zügel führte, gelangte Rowan auf einen Bergsattel, der zwischen zwei Felsentürmen eingezwängt war. Wie zwei riesige natürliche Wächter ragten sie in den Himmel und überblickten das Land, das unter einer Glocke aus Dunst und tiefliegenden Wolken kaum zu sehen war. Mehr noch als die beiden steinernen Monumente fesselte Rowan jedoch das seltsame Gebilde, das auf dem Bergsattel errichtet worden war.
Zuerst hielt er die Ansammlung von Steinen für eine Laune der Natur. Doch je näher er kam, desto mehr Einzelheiten erkannte er. Er sah die Zeichen, die in die Steine geritzt waren; die welken Blumen und halb verwesten Kadaver kleiner Tiere, die darauf ausgebreitet lagen, dazu einige Gebrauchsgegenstände aus Stein und rostigem Eisen. Und er sah den Schädel, der auf einem in den Boden gerammten Pfahl stak und ihm grausig entgegenstarrte.
Keine Frage – dies war das Werk von Menschenhand!
Rowans Herz schlug heftig, als er sich dem eigenartigen Schrein näherte, sich wachsam umblickend. So froh er einerseits darüber war, vielleicht auf einen neuen Hinweis zu stoßen, so sehr beunruhigte ihn der Gedanke, dass Menschen in der Nähe waren, womöglich jene unheimlichen Krieger, die Bruder Cuthbert verschleppt hatten.
Wind strich über den Bergsattel und trug den Geruch von fauligem Fleisch heran. Einen Ort wie diesen hatte Rowan nie gesehen. Die Art und Weise, wie die Gegenstände und die toten Tiere auf den Steinen ausgebreitet lagen, ließ an einen Opfertisch denken. Doch wenn es Opfergaben waren, wem waren sie gewidmet? Einer grausamen heidnischen Gottheit, die nach dem Blut von Mensch und Tier verlangte? Oder, und dieser Gedanke versetzte Rowan noch mehr in Unruhe, war dieser Schrein errichtet worden, um denen zu huldigen, die die Herren dieses Gebirges waren? Womöglich den geheimnisvollen Schattenkriegern? Oder galten die Opfergaben gar demjenigen, den Rowan suchte? Dem König, der sich Presbyter nannte. Ein Schauder durchrieselte Rowan. Sein Blick fiel auf den Schädel, der auf der Lanzenspitze steckte und
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