Das verschollene Reich
gewesen. Dir hat es stets genügt, ein einfacher Diener des Ordens zu sein. Meine Ziele waren von Beginn an höhergesteckt. Ich wollte praeceptor werden, Ratsmitglied, womöglich eines Tages Großmeister. Du jedoch hast all das vereitelt, also beschwere dich nicht, wenn ich meinem Glück ein wenig nachgeholfen habe.«
»Was ist aus dir geworden, Verräter?«, wollte Kathan wissen.
»Als ich nach Damaskus gelangte«, fuhr Mercadier in seinem Bericht fort, »war Nur ad-Din, der dortige Atabeg, soeben gestorben. Sein Nachfolger wurde ein aufstrebender junger Feldherr mit Namen Yussuf Salah al-Din. Vielleicht hast du schon von ihm gehört.«
»Saladin«, zischte Kathan. »Du machst mit dem Feind gemeinsame Sache? Du hast das Mädchen an ihn verkauft?«
»Das Mädchen, wie du es nennst, hatte einen Traum, in dem es eine Festung in Feuer und Zerstörung untergehen sah, ehe das Banner des Halbmonds darüber errichtet wurde. Es gelang mir, zu Saladin vorgelassen zu werden und ihn davon zu überzeugen, dass dies keine andere Stadt als Jerusalem sei, über die er als Eroberer triumphieren würde. Glücklicherweise schenkte seine Eitelkeit mir nur zu gerne Glauben, und so stieg ich dank unserer kleinen Seherin in Positionen auf, die mir andernfalls verschlossen geblieben wären. Noch nicht einmal meine Vergangenheit im Dienst des Ordens störte die Muselmanen, zumal ich meinem alten Glauben abschwor und mich zu ihrem bekannte.«
»Verräter«, sagte Kathan abermals und spuckte aus.
»Ich lernte die Sprache der Sarazenen zu sprechen, bis ich sie ebenso gut beherrschte wie unsere eigene, und ich lernte ihre Sitten und Gebräuche zu schätzen. Wusstest du, dass sie sich waschen, ehe sie zu Tisch sitzen? Dass sie ihre Körper regelmäßig reinigen? Dass sie uns für stinkende, ungewaschene Barbaren halten? Dass ihre Ahnen schon den Gang der Sterne beobachteten, als unsere noch rohes Fleisch aßen?«
»Ich bin beeindruckt.«
»Als die ersten Voraussagen des Mädchens tatsächlich eintrafen, gewannen wir vollends Saladins Vertrauen. Seinen eigenen Sterndeutern und Wahrsagern hörte er schon bald nicht mehr zu, zumal ihm das Mädchen eine erfolgreiche Zukunft voraussagte. Es sah seinen Sieg über Aleppo voraus, und mich, der ich As-Sifâra an seinen Hof gebracht hatte, ernannte Saladin zu seinem persönlichen Gesandten.«
» As-Sifâra? «
»So pflegen sie das Mädchen zu nennen – es bedeutet ›die Botschaft‹. Ob es dir gefällt oder nicht, Kathan – sie ist eine von ihnen geworden. Eine Feindin.« Das war zu viel für Kathan. »Du lügst!«, schrie er aus Leibeskräften, während er wie von Sinnen an den Fesseln zerrte. Der in den trockenen Boden gerammte Pfahl gab ein wenig nach, worauf die beiden Wachen herantraten, ihre Speere senkten und sie auf seine Brust richteten. »Alles Lüge!«, begehrte Kathan dennoch auf und fletschte die Zähne wie ein gefangener Löwe. »Jedes einzelne Wort, das aus deinem verräterischen Maul kommt!«
»So?«, fragte Mercadier gelassen. »Glaubst du das wirklich?«
»Spätestens jetzt weiß ich, dass alles, was du gesagt hast, Lüge war«, beharrte Kathan. »Das Mädchen ist so jung, so voller Unschuld. Lieber wäre es gestorben, als eine von ihnen zu werden! Und was auch immer du getan hast und wie auch immer du dich kleiden magst, Mercadier – ein Vertrauter Saladins bist du ganz sicher nicht!«
Mercadier trat vor ihn, sein Lächeln eine Mischung aus Verachtung und Genugtuung. »Du hast mir vorgeworfen, dass ich nichts verstanden hätte, Bruder Kathan«, sagte er, »aber ich fürchte, dass du es bist, der nichts begreift. Die Zeiten haben sich geändert, seit unsere Wege sich trennten, die Welt ist im Umbruch. Nur wer das versteht und entsprechend handelt, kann überleben!«
Damit trat er zum Eingang des Zeltes zurück und schlug den Vorhang beiseite. Draußen war es noch immer Nacht, doch waren unzählige Fackeln entzündet worden – und in ihrem Schein sah Kathan die Soldaten, die in der Steppe lagerten, nicht nur ein paar Dutzend, sondern Hunderte von ihnen, Tausende …
Arabische Infanteristen in weißen Tuniken.
Schwer gepanzerte ghulam -Reiter.
Mit Pfeil und Bogen bewehrte Mamelucken.
Dunkelhäutige ägyptische Söldner.
Syrische Ahdath-Krieger mit bunten Turbanen.
Mit langen Kaftanen bekleidete Beduinen.
Kathan traute seinem Auge nicht, und doch konnte es keinen Zweifel geben: Er befand sich in einem Kriegslager Saladins.
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4
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»Wir alle sind von der
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