Das verschollene Reich
damals alt gewesen und dennoch schon eine Witwe. Guillaume de Montferrat, den sie auf Weisung des Regenten Raymond von Tripolis gegen ihren Willen geheiratet hatte, war gestorben, kurz nachdem sie ihm einen Sohn geboren hatte. Als Mutter des zukünftigen Königs war ihr gestattet worden, am Hof von Jerusalem zu verbleiben, jedoch war ihr Einfluss zusehends geschwunden – bis Guy in ihr Leben getreten
war.
Sibylla wusste nicht mehr zu sagen, was ihn so unwiderstehlich hatte scheinen lassen: die körperliche Anziehung, die er auf sie ausgeübt hatte, oder die Aussicht, durch seine Hilfe wieder zu Macht und Einfluss zu gelangen. Möglicherweise beides. Guy, der ihre Not und Einsamkeit ebenso gespürt zu haben schien wie seine Chance, durch ihr Zutun in höchste Kreise aufzusteigen, hatte ihr den Hof gemacht. Wer wessen Reizen erlegen war, war im Nachhinein nicht mehr festzustellen. Sie hatten einander gefunden wie zwei Falken im Sturm, und schließlich war es Sibylla gelungen, ihren von Lepra gezeichneten Bruder Baldwin zu überreden, ihr Guy zum Mann zu geben.
Vor, so schien es, undenklich langer Zeit …
»Sollte ich es nicht sein, die Euch diese Frage stellt, werter Gemahl?«, erkundigte sich Sibylla spitz. »Muss ich Euch daran erinnern, dass Ihr der König von Jerusalem seid? Dass Ihr diese Bürde von meinem vom Aussatz geschwächten Bruder übernommen habt?«
Guy starrte sie an. Dann, in einem selten gewordenen Ausbruch von Temperament, schoss er in die Höhe und kam auf sie zu. Mit wenigen Schritten seines ausgreifenden, ein wenig linkisch wirkenden Gangs war er bei ihr. Das schulterlange schwarze Haar umwehte seine schmalen Züge, die durch den spitzen Kinnbart noch betont wurden. Zorn sprach aus den tief liegenden Augen, die stets ein wenig getrieben wirkten.
»Du solltest so etwas nicht sagen«, beschied er ihr streng und mit mühsam gedämpfter Stimme. »Vergiss nicht, dass wir beide in diese Sache verwickelt sind, Sibylla. Ohne mich wärst du nicht Königin …«
»… so wie du ohne mich nicht König wärst«, konterte sie. Stolz warf sie das Haupt mit dem kunstvoll geflochtenen Haar in den Nacken und taxierte ihn aus ihren schmalen Augen, die nach orientalischer Art dunkel umrandet waren, was das Azurblau ihrer Pupillen noch deutlicher hervortreten ließ.
»Wie ich schon sagte«, stieß er zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, während er noch näher trat, »wir stecken gemeinsam in dieser Sache. Wir können ohne einander nicht sein, Sibylla, sind aneinandergebunden wie der Blinde und der Lahme.«
»Ein schöner Vergleich.« Sie lächelte matt und ließ ihren Blick an seiner schlanken Gestalt herabgleiten. »Wer von beiden du bist, ist nicht weiter schwierig zu erraten.«
»Sibylla!« Er packte sie an den Schultern und stieß sie hart gegen die Wand. »Das ist kein Spiel! Begreifst du nicht, was hier vor sich geht? Die Krone auf meinem Haupt wankt! Viele der eingesessenen Familien hätten es lieber gesehen, wenn Graf Raymond deinem Bruder nachgefolgt wäre. Nur mit List ist es uns gelungen, sie zur Zustimmung zu überreden, und viele zürnen uns deswegen.«
»Und? Was hast du erwartet, mein Gemahl? Dass es einfach werden, dass dir die Macht in den Schoß fallen würde?«
»Nein, aber ich …«
»Oder hast du etwa Angst?«
»Schweig, Weib!« Er presste sie noch fester an die Wand. »Weder bin ich ein Feigling noch habe ich je eine Konfrontation gescheut«, zischte er, »aber diesen Kampf können wir nicht gewinnen. Wenn Saladin erst sein Heer formiert hat und gegen Jerusalem zieht, wird der Adel von uns abfallen und sich Raymond von Tripolis zuwenden, und dann …«
»Du hast Angst«, stellte sie fest, streng und abweisend. »Wo sind deine Visionen geblieben, Guy? Wo dein Ehrgeiz? Wo dein Hunger nach Geltung? Dein Streben nach Macht? Hast du vergessen, was wir gemeinsam erreichen wollten?«
»Sei still«, beschied er ihr. »Was weißt du schon über mich? Ich bin noch immer so hungrig wie am ersten Tag unserer Begegnung!«
»Wirklich?« Ihre blauen Augen musterten ihn herablassend. »Sosehr ich mich auch bemühe, mein Gemahl, ich kann davon nichts erkennen.« Sie versuchte vergeblich, sich aus seinem Griff zu winden. Zumindest was die Körperkraft betraf, schien er ihr also noch überlegen zu sein.»Strapaziere meine Nachsicht nicht allzu sehr, Sibylla«, riet er ihr. »Du solltest keine Spiele mit mir treiben. Und du solltest nicht den Fehler begehen, mich zu unterschätzen!«
Er
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