Das verschollene Reich
und Satyrn, Faune und Zyklopen. Und auch die Feder des Phönix war letztlich wohl nichts als eine Täuschung.«
»Anzunehmen«, brummte Rowan und vermied es, dabei wieder an Cassandra zu denken. »Ich wünschte, ich könnte die Dinge so sehen wie Ihr, Meister. Ich habe wirklich gedacht, dass wir das Reich des Priesterkönigs finden werden.«
»Wir haben es gefunden.«
»Ihr wisst, was ich meine.«
Cuthbert nickte verständnisvoll. »Dich hat das Abenteuer gelockt, mein Junge, die Lust daran, den Staub der Gewohnheit von den Füßen zu schütteln und ins Unbekannte vorzustoßen. Ungestüm ist das Vorrecht deines Alters. Ich bedaure nur, dass es dich an diesen Ort geführt hat, von dem es kein Entkommen gibt.«
»Wir könnten zu fliehen versuchen.«
»Durch das Tor, das Tag und Nacht bewacht wird?«
»Ich bin durch dieses Tor hereingelangt«, gab Rowan grimmig zu bedenken. Dass ihm das Kunststück ein zweites Mal gelingen würde, bezweifelte er allerdings selbst. »Wir könnten Fürst Ungh-Khan auch bei unserem Leben schwören, dass wir niemandem etwas über ihn und sein Volk verraten werden.«
»Das könnten wir«, stimmte Bruder Cuthbert zu, »aber so weit reicht sein Vertrauen nicht. Ich habe schon vor deiner Ankunft versucht, ihn dazu zu überreden, weil ich mich auf die Suche nach dir und dem Mädchen machen wollte, jedoch vergeblich. Fürst Ungh-Khan ist von tiefem Misstrauen erfüllt, selbst uns gegenüber.«
»Aber warum? War es nicht sein Vater, der die Herrscher Europas um Hilfe gebeten hat?«
»Schon, aber seit jener Zeit hat sich viel geändert. Du musst wissen, dass die Keraiten zwar Christen sind, sich jedoch zur Lehre der Nestorianer bekennen.«
»Und das bedeutet?«
»Armer Junge, hat man dir denn gar nichts beigebracht?« Cuthberts Lächeln war voller Nachsicht. »Ein Gelehrter namens Nestorius«, begann er dann zu erklären, »vertrat vor fast achthundert Jahren die Ansicht, dass unser Herr Jesus Christus in zwei Personen auf Erden gewandelt sei, nämlich einer göttlichen und einer menschlichen, einander verbunden durch innigste Liebe.«
»Und?«, fragte Rowan unbedarft.
»In Konsequenz bedeutet dies, dass die Jungfrau Maria nicht den Erlöser geboren hat, nicht den Sohn des Allmächtigen, weshalb sich die Nestorianer ihrer Verehrung verweigern. Diese Leugnung einer allgemein anerkannten Wahrheit hat dazu geführt, dass Nestorius auf dem Konzil von Ephesos exkommuniziert und seine Lehre als Häresie verurteilt wurde – was seine Anhänger nicht davon abhielt, sie weiterzuverbreiten und zu missionieren.«
»Ich verstehe«, meinte Rowan. »Dann sind die Kaufleute, denen der König der Keraiten damals begegnete, wohl Nestorianer gewesen?«
»Das ist anzunehmen. Innerhalb der Kirche gelten Nestorianer nach wie vor als Ketzer und werden hart bestraft. Ich nehme an, dass die Keraiten davon erfahren haben, denn es würde erklären, warum sie ihre Meinung hinsichtlich anderer Christen offenbar geändert haben und lieber für sich bleiben wollen. Sie sind uns nicht feindlich gesinnt, aber sie trauen uns nicht …«
Er unterbrach sich, als plötzlich Schritte und das Klirren von Rüstungen zur Turmplattform heraufdrangen. Ein Trupp Bewaffneter erschien, und Rowan nahm an, dass es Wachsoldaten wären, die den Turm besetzen wollten. Als sie jedoch die Speere senkten und ihn und seinen Meister damit bedrohten, wurde ihm klar, dass dies ein Irrtum war.
Den acht Kriegern, die sich auf der Plattform drängten, gesellte sich ein neunter hinzu: Fürst Ungh-Khan selbst, in dessen schmalen Augen heller Zorn loderte. Er rief ein Wort auf Griechisch, das sogar Rowan verstand: »Prodotes!«
Verräter!
Durch eine Gasse, die die Krieger für ihn bildeten, trat er auf die beiden Mönche zu, die nicht wussten, was das alles zu bedeuten hatte. Beherzt trat Bruder Cuthbert dem Oberhaupt der Keraiten entgegen und verbeugte sich, und sie wechselten einige Worte. Bislang hatte Rowan Ungh-Khans Krieger nicht wirklich als Bedrohung wahrgenommen, da sie ihnen zwar stets voller Argwohn, jedoch nie feindselig begegnet waren. Als er nun jedoch sah, wie sich Bruder Cuthberts Gesichtsfarbe änderte und die eben noch so milde blickenden Züge seines Meisters versteinerten, da wurde ihm klar, dass sich die Dinge geändert hatten.
»Was will er von uns?«, wollte Rowan wissen, als sich Bruder Cuthbert endlich wieder zu ihm umwandte.
»Fürst Ungh-Khan sagt, dass seine Späher im Gebirge ein fremdes Heer gesichtet
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