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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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und überall verteidigen und schützen wir durch Spenden die armen Christen, über welche das Reich unserer Milde waltet.«
    Brief des Johannes Presbyter, 37 – 39
    Bergfestung, Zagrosgebirge
28. Juni 1187
    Seit drei Wochen weilten sie nun bei den Keraiten. Anfangs war Rowan vieles fremd erschienen: etwa dass die Soldaten beim Betreten einer Kammer höchste Vorsicht walten ließen, um ja nicht auf die Schwelle zu treten, und dass sie sich bevorzugt von einem streng schmeckenden Fleischbrei ernährten und dazu vergorene Stutenmilch tranken. Doch je länger er sich in der Felsenburg aufhielt, desto mehr gewöhnte er sich an ihre Sitten und Gebräuche.
    Die Tage vergingen wie im Flug, nicht zuletzt, weil Bruder Cuthbert sie streng gegliedert hatte. Nach Wochen der Unrast und der Nachlässigkeit, was die klösterlichen Pflichten betraf, legte er Wert darauf, dass die Offizien mit derselben Strenge wie im Konvent eingehalten wurden, einerseits, um den Keraiten ein gutes Beispiel zu geben, andererseits aber auch, um, wie er sagte, den Geist vom Ballast der langen Reise zu befreien. Und je mehr Rowan sich an den altbekannten Tagesablauf gewöhnte, desto deutlicher wurde ihm, dass Bruder Cuthbert wieder einmal recht hatte und dass jene Regelmäßigkeit, die er früher stets nur als Zwang empfunden hatte, ihm ein Maß an innerer Ruhe verschaffte, die alles andere in weite Ferne rückte, sodass er es mit Gelassenheit betrachten konnte: ihre fehlgeschlagene Mission und die Tatsache, dass ihre Mühen vergeblich gewesen waren, ebenso wie die Aussicht, die Festung der Keraiten niemals wieder verlassen zu können. Nur in einer Hinsicht verschaffte die klösterliche Kontemplation Rowan keine Besänftigung.
    Cassandra.
    Wann immer er an sie dachte, fühlte er einen Stich in seinem Herzen, und eine Unzahl von Fragen bestürmte ihn, auf die er keine Antwort wusste. Wovon hatte sie damals gesprochen? Was hatten jene dunklen Andeutungen zu bedeuten gehabt? Warum war sie geflohen? Um ihn zu beschützen, wie sie sagte? Wovor? Und wohin war sie gegangen?
    Mit jedem Tag, der verstrich, sorgte er sich mehr um sie. Zwar sagte er sich, dass sie ganz offenbar nicht jenes zerbrechliche, schutzbedürftige Wesen war, für das er sie lange gehalten hatte, und dass sie sicher auf sich aufzupassen wusste, doch hatte er keine Gewissheit. Immer wieder musste er an die Zeit denken, die sie zusammen verbracht, an die Gefühle, die er dabei empfunden hatte, und er vermisste sie so sehr, dass es wehtat. Bisweilen erwog er, aus der Bergfestung zu fliehen und sich auf die Suche nach ihr zu machen, aber er gab sich keinen Illusionen hin. Ungh-Khans Männer würden ihn zweifellos sogleich wieder einfangen, und außerdem wollte er Bruder Cuthbert nicht im Stich lassen, nun, da er ihn so unverhofft wieder gefundenhatte.
    »Woran denkst du?«, wollte der alte Mönch von ihm wissen. Sie waren auf einen der Türme gestiegen und blickten in die einmal mehr unter dichten Wolken verborgene Tiefe.
    »Nun, ich …« Rowan zögerte, doch wieder einmal musste er feststellen, dass sein Meister ihn sehr viel besser kannte als er sich selbst.
    »Kannst du sie nicht vergessen?«, fragte er leise.
    Ertappt blickte Rowan auf, doch es war kein Tadel in Bruder Cuthberts Zügen zu erkennen. »Nein, Meister«, gestand er seufzend.
    »Nun bist du wenigstens ehrlich zu mir.« Cuthbert lächelte.
    »Ich weiß, ich habe gefehlt, Meister«, erwiderte Rowan leise.
    »In dieser speziellen Hinsicht haben viele gefehlt«, entgegnete der alte Mönch ruhig, »aber längst nicht alle sind danach auf den Pfad der Gerechten zurückgekehrt.«
    »Ihr denkt, dass das bei mir der Fall ist?« Rowan schüttelte den Kopf. »Da bin ich mir nicht sicher. Ich habe vieles falsch gemacht, schon seit sehr langer Zeit. Ich habe diese Reise, diesen Auftrag als eine Art Wiedergutmachung betrachtet, wollte Euch und aller Welt beweisen, dass ich nicht der Nichtsnutz bin, als der ich stets beschimpft wurde. Aber ich konnte Euch nicht dabei helfen, die Mission erfolgreich zu Ende zu führen.«
    »Glaubst du?«, erwiderte Cuthbert. »Wie du dich vielleicht erinnerst, habe ich stets nur ein Ansinnen gehabt: die Wahrheit über das Reich Johannis herauszufinden.«
    »Das haben wir«, meinte Rowan mit freudlosem Grinsen, »und was hat es uns eingebracht?«
    »Nun, immerhin wissen wir jetzt, dass die wundertätigen Quellen, auf die Sibyllas Vater Amalric einst gehofft hatte, nicht existieren, ebenso wenig wie Zentauren

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