Das verschollene Reich
hätten.«
»Ein Heer?« Rowan hob die Brauen.
»Eines, das unter dem Banner des Halbmonds marschiert und sich offenbar in unsere Richtung bewegt.«
»Ein Heer der Sarazenen?«, fragte Rowan ungläubig.
In diesem Augenblick gab Fürst Ungh-Khan einen bellenden Befehl. Die Soldaten rückten vor und bedrängten die wehrlosen Mönche mit ihren Speeren. Cuthbert fragte etwas und erhielt eine barsche Antwort.
»Was ist?«, fragte Rowan.
»Fürst Ungh-Khan glaubt, dass wir es waren, die die Sarazenen hierhergeführt haben. Wir werden des Hochverrats bezichtigt.«
----
15
----
»Der Gute erlangt Wohlgefallen beim Herrn, den Ränkeschmied aber verdammt er.«
Sprüche 12,2
Nablus
Ende Juni 1187
Die Burg von Nablus verdiente den Namen eigentlich nicht, denn es war wenig mehr als ein Turm, der den Bewohnern des Umlandes in Kriegszeiten als Zuflucht diente; jedoch gehörte sie zur Grafschaft Balians von Ibelin, der nicht nur am Hof von Jerusalem, sondern auch in Tripolis einen unzweifelhaften Ruf als Mann von Ehre genoss. Wenn überhaupt, so war es nur ihm zuzutrauen, die Kluft zu überbrücken, die den König und seinen Rivalen Graf Raymond trennte, um die Einheit des Reiches wiederherzustellen und es so vor der drohenden Invasion durch Saladins Truppen zu bewahren.
»Seid gegrüßt, Graf Raymond.«
Balian, ein sehnig gebauter Mann mit edlen Zügen, der über seiner Kettenbrünne einen schlichten ledernen Waffenrock trug, deutete eine Verbeugung an.
»Ibelin.« Raymond erwiderte die Begrüßung, bemüht, sich nicht allzu demütig zu zeigen. Der Grat, auf dem er sich bewegte, war schmal – zwischen Bescheidenheit und Stolz, Rückkehr und Aufbruch. Erst nachdem der König ein zweites Mal Boten zu ihm geschickt und ihn um eine Unterredung auf neutralem Boden ersucht hatte, hatte er eingewilligt und musste nun feststellen, dass sich die Gegenseite nicht ganz an die Abmachung gehalten hatte.
»Ich danke Euch im Namen des Königs, dass Ihr gekommen seid«, sagte Ibelin. »Es steht viel auf dem Spiel.«
»Dessen bin ich mir bewusst«, versicherte Raymond, während er sich demonstrativ in der kleinen, schmucklosen Halle umblickte. »Umso mehr hatte ich geglaubt, den König selbst anzutreffen. Was ist geschehen? Fürchtet Guy die Begegnung mit mir?«
»Nein.« Balian schüttelte den Kopf. »Der König weilt bereits in Acre, wo er sein Heer zur Verteidigung des Reiches sammelt. Aber er hat mir alle nötigen Befugnisse erteilt, um mit Euch zu verhandeln.«
»Interessant.« Mit einem süffisanten Lächeln wandte Raymond sich den beiden Edlen zu, in deren Begleitung er eingetreten war, Gefolgsleute aus Tripolis, denen er bedingungslos vertraute. Nach all den Monaten, die er im selbst gewählten Exil in Tiberias verbracht und seine Wunden geleckt hatte, genoss er es, nicht mehr in der Rolle des Bittstellers zu sein. Nicht er wollte etwas von Jerusalem, sondern Jerusalem wollte etwas von ihm! »So lasst uns keine Zeit verschwenden. Wenn ich es recht verstanden habe, wünscht der König eine Beendigung unserer – wie soll ich es nennen? – Rivalität.«
»So ist es.«
»Und was bietet er mir dafür?«
»Seine brüderliche Freundschaft«, entgegnete Balian ohne Zögern.
»Sieh an.« Raymond schürzte geringschätzig die Lippen. »Nicht sehr viel, wenn man bedenkt, welche Schmach ich erdulden musste, gedemütigt von einem Emporkömmling und einer Frau.«
»Graf Raymond«, Balian, der ihm mit im Rücken verschränkten Armen gegenüberstand, räusperte sich, »ich weiß sehr gut, dass Ihr Unrecht ertragen musstet. Alle Noblen des Reiches wissen es, vorwiegend jene, die aus den alten Familien stammen, und es ist der Grund dafür, dass viele Guy de Lusignan mit Misstrauen, ja, mit Ablehnung gegenübertraten. Aber dies ändert nichts daran, dass er unser König ist, dem es obliegt, das Reich zu verteidigen. Wenn Ihr ihm in der Stunde der Not Eure Hilfe verweigert, weil Eure Eitelkeit gekränkt wurde, so wird dies keiner der Noblen nachvollziehen können – nicht einmal jene, die Euch bislang noch unterstützen.«
Raymond verzog das Gesicht. »Ist es Guy, der mir dies sagen lässt?«
»Nein.« Balian schüttelte den Kopf. »Diese Worte spreche ich zu Euch als jemand, der Euch wohlgesinnt ist. Aber ich versichere Euch, dass ich für einen Großteil des Adels spreche, der erwartet, dass kleingeistige Rivalitäten zurückstehen, wenn es um das Ganze geht.«
»Kleingeistig.« Raymond verzog das Gesicht. »Ihr wählt
Weitere Kostenlose Bücher