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Das verschollene Reich

Titel: Das verschollene Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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abstreifen, so werde ich meinen Fehler ausmerzen, das schwöre ich!
    Der Wortlaut des Versprechens war Kathan noch gegenwärtig – so deutlich, dass er weder Dankbarkeit für seine Befreiung empfand noch Mitleid für sein Opfer. Sein ganzes Denken, seine ganze Kraft war darauf gerichtet, diesen bitteren Schwur zu erfüllen.
    »Ich werde dich töten«, zischte er, »und wenn es das Letzte ist, was ich tue! Nicht länger sollst du ein Werkzeug des Bösen sein, nicht länger eine Puppe Mercadiers!«
    Sein Leben war ihm gleichgültig geworden.
    Bei allem, was er durchlebt und durchlitten hatte, bei allen Kämpfen, die er überstanden, bei allen Verwundungen, die er davongetragen und überlebt hatte, hatte ihn stets die Hoffnung aufrechterhalten, dass er das Mädchen irgendwann finden, dass er es aus der Gewalt der Templer befreien würde. Zwar mochte zumindest ein Teil dieser Hoffnung sich erfüllt haben. Doch der Schmerz über das, was aus dem einstmals so unschuldigen Wesen geworden war, die Erkenntnis, dass sich die Sünden der Vergangenheit auf grausame Weise rächten, wog so schwer und war so überwältigend, dass nur der Tod sie tilgen konnte.
    Vergeblich, alles war vergeblich gewesen, das hohe Ideal zerstört. Mit aller Macht hatte sich Kathan gegen diese Einsicht gewehrt, bis er sich der Wahrheit nicht länger hatte verschließen können. Die Zeit war grausam gewesen, hatte aus dem Opfer von einst eine Täterin gemacht, eine Feindin, ein Monstrum, das nicht am Leben bleiben durfte. Er war es gewesen, der sie einst gerettet hatte, und er war es auch, der es beenden musste.
    Hier und jetzt.
    Er starrte in ihre dunklen Augen, die sich entsetzt geweitet hatten, in ihr Gesicht, in dem er nichts mehr erkennen konnte von der kindlichen Unschuld, die sein Herz so sehr gerührt hatte. Er drückte noch fester zu, presste das Leben aus ihr heraus – während neben ihm jemand in keifendes Gelächter ausbrach.
    Kathan wandte den Blick. Es war Gaumardas, hager und in blutbesudelter Robe, die Züge bleich und das Haar feuerrot, so wie er ihn in Erinnerung hatte.
    »Was gibt es da zu lachen?«, wollte Kathan wissen.
    »Ich lache über dich, Bruder«, erwiderte Gaumardas, aus dessen Mundwinkeln roter Lebenssaft rann. »Ich habe dir immer gesagt, dass sie unser aller Verderben bedeutet. Hättest du damals auf mich gehört, wäre dir viel erspart geblieben. Nun siehst du, dass ich recht hatte, nicht wahr? Nun endlich siehst du es.«
    Die Worte des Abtrünnigen geisterten durch seinen Verstand. Dunkle Flecken tanzten vor ihm auf und ab, in seinem Kopf begann es zu rauschen. Die sitzende Haltung, in der er die letzten Tage verbracht hatte, verlangte ihren Tribut. Das Blut sackte ihm in die Beine, die Knie wurden ihm weich – und er ging nieder, riss die junge Frau mit sich. Halb auf ihr, halb auf dem steinigen Boden liegend, fand er sich wieder. Ihre Züge waren bleich geworden, ihr Mund öffnete und schloss sich wie bei einem Fisch, der auf dem Trockenen lag, während sie vergeblich nach Atem rang. Nur noch Augenblicke, dann …
    In diesem Moment fiel sein Blick auf den kleinen Gegenstand, der beim Sturz aus ihrer Tasche gefallen war.
    Ein kleines Holzpferd mit nur drei Beinen.
    Das Holzpferd, das er einst selbst geschnitzt hatte.
    Vor undenklich langer Zeit.
    Plötzlich die Erkenntnis, die ihn wie ein Faustschlag in die Magengrube traf: Die Dinge wiederholten sich!
    Die Gräber tauchten vor seinem inneren Auge auf, die er mit eigenen Händen aufgeschüttet hatte, auf jener Klippe, hoch über der stürmischen See. Er hatte seine Familie schon einmal verloren.
    Kein zweites Mal!
    In einem jähen Entschluss ließ er von ihr ab und wälzte sich von ihr. Keuchend rang sie nach Atem, griff sich an die Kehle, schien einige Augenblicke zu brauchen, um zu begreifen, dass sie noch am Leben war. Ihre Blicke flogen umher, fanden Kathan, der neben ihr am Boden lag, zu schwach, um sich aufzurichten, und beschämt über das, was er hatte tun wollen.
    »Geh«, raunte er ihr zu. »Flieh, so weit du kannst.«
    »Und was … ist mit dir?«, presste sie mühsam hervor.
    »Ich bleibe und werde die Wachen ablenken.«
    »Dann wirst du sterben!«
    Er nickte. »Ich habe Fehler begangen, große Fehler. Es ist an der Zeit, dafür zu sühnen.«
    Geschwächt, wie sie war, kroch sie zu ihm, blickte ihm tief in das eine Auge. »Nein«, entschied sie dann. »Ich habe dich einmal zurückgelassen. Kein zweites Mal.«

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14
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    »Ich bin ein frommer Christ,

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