Das verschollene Reich
gefährliche Worte. Dennoch will ich sie Euch nachsehen, denn ich bin gekommen, um dem König die Hand zur Versöhnung zu reichen.«
»Also seid Ihr mit uns?«
»Ich bin niemals gegen Jerusalem gewesen – nur gegen den Mann, der den Thron bestiegen hat. Und deshalb glaube ich nicht, dass ein Kräftemessen mit den Muselmanen die Lösung unserer Probleme ist, wie er uns glauben machen mag. Im Gegenteil können wir alle nur dabei verlieren. Folglich sollten wir mit Saladin verhandeln und uns um einen friedlichen Ausgleich bemühen.«
»Glaubt Ihr, daran wurde nicht gedacht?« Der Herr von Ibelin schüttelte den Kopf. »Saladin hat Verhandlungen abgelehnt.«
»Weil der König die Auslieferung Raynalds de Chatillon verweigert hat«, konterte Raymond. »Wer Dieben und Mördern Unterschlupf gewährt, braucht sich nicht zu wundern, wenn er angegriffen wird. Saladin verlangt nur, was recht ist.«
»Vielleicht – aber der König hat anders entschieden.«
»Doch nur, weil er Raynald hörig ist wie ein verdammter Hund seinem Herrn!«, ereiferte sich Raymond. »Aber es ist noch nicht zu spät. Durch einen sadîq unterhalte ich direkten Kontakt zu Saladin. Wenn Guy bereit ist, die Forderungen des Sultans zu erfüllen, könnte ein Blutvergießen noch immer vermieden werden.«
Balian seufzte, sein eben noch so straffer Körper schien ein wenig an innerer Spannung zu verlieren. »Noch vor ein paar Wochen hätte ich Euch vermutlich zugestimmt«, gestand er leise, »nun jedoch ist es zu spät. Wie Ihr wisst, hat Saladin unsere Truppen bei Cresson bereits geschlagen und die Frucht des Sieges gekostet. Er weiß jetzt, dass er gewinnen kann, und diese Aussicht wird er sich auch von Euch nicht nehmen lassen. Wenn es ihm gelingt, Jerusalem zurückzuerobern und damit die Schmach zu rächen, die unsere Ahnen seinesgleichen angetan haben, wird dies seine Stellung nicht nur festigen, sondern ihn nahezu unangreifbar machen. Keiner der Unterführer und Atabegs wird es danach mehr wagen, sich gegen ihn zu stellen, schon deshalb wird er sich nicht zurückziehen. Er braucht diesen Sieg ebenso sehr wie wir.«
Raymond schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht glauben. In der Vergangenheit war Saladin stets um Ausgleich bemüht.«
»In der Vergangenheit«, konterte Balian, »ist Saladin ein anderer gewesen. Er ist stärker und mächtiger als je zuvor, und er trachtet danach, uns zu zerschmettern. Ich kenne Euch lange und gut genug, Raymond, um zu wissen, dass Ihr kein Verräter und nur auf das Wohl des Reiches bedacht seid. Doch in dieser Lage bleibt Euch keine andere Wahl, als Euch zu entscheiden, ob Ihr für den König oder gegen ihn seid.«
»Und um mir das zu sagen, habt Ihr mich hergerufen?« Raymond spürte jähen Zorn in sich aufsteigen. »Sagtet Ihr nicht, dass mir der König seine brüderliche Freundschaft anbiete, Ibelin? Mir kommt es eher vor, als wollte er mich erpressen!«
Balian wollte etwas erwidern, als die Tür zur Halle geöffnet wurde. Ein Mann, der ähnlich gekleidet war wie er selbst und zu seinen Vertrauten zu gehören schien, passierte die Wachen und eilte heran, flüsterte ihm einige Worte ins Ohr.
»Heimlichkeiten?«, fragte Raymond ungehalten. »Sollten Freunde nicht offen miteinander umgehen?«
»Das sollten sie«, stimmte Balian zu, »deshalb will ich Euch nicht verhehlen, was ich soeben erfahren habe. Zumal es Euch in ungleich größerem Maße betrifft als mich.«
Unruhe beschlich Raymond. »Was gibt es?«, wollte er wissen.
»Ein Bote ist eingetroffen. Wir haben die Kunde erhalten, dass Saladins Hauptstreitmacht ins Königreich eingefallen ist und Eure Festung Tiberias bedroht.«
»Was?«
»Die Belagerung hat bereits begonnen«, bestätigte Balian.
»Aber …« Raymond schnappte nach Luft, versuchte, seine plötzlich wild ausschießenden Gedanken zu ordnen. »Meine Gattin Escheva hält sich in Tiberias auf. Saladin würde nie etwas unternehmen, das meine Familie gefährden könnte, das hat mir der sadîq mehrfach versichert.«
»Offenbar kennt Ihr Saladin nicht so gut, wie Ihr dachtet. Eure Überlegungen bezüglich neuer Verhandlungen sind damit wohl hinfällig geworden. Es ist entschieden.«
»Entschieden«, wiederholte Raymond atemlos und fuhr sich durch das lange Haar. Fieberhaft suchte er nach Antworten, aber er fand sie nicht, und das hässliche Gefühl, von der Wirklichkeit eingeholt worden zu sein, drängte sich ihm auf.
Natürlich hätte er die Nachricht als Lüge abtun können, als
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